sprachreif HUM 2, Schulbuch

91 Lesen Sie den Beginn des Jugendbuches Dazwischen: Ich der Schriftstellerin Julya Rabinowich und die Infobox zum Buch. Julya Rabinowich: Dazwischen: Ich Wo ich herkomme? Das ist egal. Es könnte über- all sein. Es gibt viele Menschen, die in vielen Ländern das erleben, was ich erlebt habe. Ich komme von Überall. Ich komme von Nirgend- wo. Hinter den sieben Bergen. Und noch viel weiter. Dort, wo Ali Babas Räuber nicht hätten leben wollen. Jetzt nicht mehr. Zu gefährlich. Ich habe langes Haar. Bis zur Hü¥e. Ich habe früher viel gelacht. Ich habe einen kleinen Bru- der und keine Angst vor wilden Hunden. Und ich habe schon Menschen sterben sehen. So. Wer das weiß, weiß mehr von mir als die meis- ten hier. Ich fange einfach damit an, was ich mag. Was ich nicht mag, kann ich immer noch später aufzäh- len. Also was ich mag: Ich mag es, wenn ich Laura umarme und sie vertraut riecht. Ich mag es, wenn ich Dinge scha e, die ich mir vorgenom- men habe. Und wenn mir jemand blöd kommt, dass ich dem übers Maul fahren kann. Weil ich die Sprache endlich beherrsche. Wer dann näm- lich schweigt, hat schon verloren. So schnell geht das. Ich mag es, wenn die Sonne scheint. Der Him- mel ist dann von einem strahlenden Blau, und wenn man die Geräusche der Autobahn weg- denkt, kann man die Vögel singen hören. Neben unserem Haus steht ein Baum. Ein gro- ßer Baum mit verzweigten Ästen, in dem schla- fen sie. Ich stelle mir vor, dass sie in den Astlö- chern Nester gebaut haben. Solche Nester können nicht so leicht bei Sturm hinunterfallen. Das mag ich lieber. Diese Vorstellung, dass die Vögel auch bei he¥igem Wind sicher sind. Au- ßerdem regnet es da auch nicht rein. Jedenfalls nicht sehr. Eigentlich ist es gut, dass der Baum nicht direkt vor meinem Fenster steht, ich würde zu viel Zeit damit verbringen, den Vögeln zuzusehen. Oder sie zu füttern. Ich habe die Brötchen vom Früh- stück o¥ in Servietten eingewickelt und heimlich mitgenommen, damit ich die hellen Krümel spä- ter auf unser Fensterbrett legen kann. Man darf kein Essen aufs Zimmer mitnehmen. Mama hält sich eisern daran. Ich ²nde das blöd. Die Köchin hält sich auch nicht an die Vorschrif- ten, sie räumt schon ab, während wir noch essen. Deswegen schlingen wir alle so. Manchmal kann ich kaum etwas essen, manchmal habe ich abends einfach keinen Hunger. Wer hat schon täglich zur gleichen Zeit Hunger? Ich nicht. Nachholen darf man sich auch nichts. Am bes- ten, man häu¥ sich gleich so viel auf den Teller, wie man kann. Manchmal schimp¥ sie, dann muss ich Brot oder Wurst oder Käse zurückge- ben. Sogar die, die ich schon angefasst habe. „So viel isst du gar nicht“, sagt sie dann. „Und Wurst isst du ganz bestimmt nicht. Weiß ich doch.“ Ich sage dann nichts. Natürlich kann ich nicht so viel essen. Ich will trotzdem selbst entscheiden, wann ich was esse und wer mitessen darf. Die Vögel dürfen zum Beispiel immer mitessen. Und die Wurst gebe ich der Katze im Hof. Bevor ich in die Schule gehe oder am Abend vor dem Schlafengehen. Ich habe der Köchin o¥ zugesehen, wie sie mit präzisen, geschickten Handgri en unser Brot einpackt, unsere Wurst, unseren Käse. In eine Plastiktüte vom Supermarkt hinein und dann in ihre große Plastiktasche, mit der sie immer kommt. Die Tasche ist manchmal so schwer, dass sie, wenn sie von der Pension mit dem Fahrrad und der Tasche am Lenkrad wegfährt, auf der schmalen Landstraße hin und her schlenkert. Rami ist so dumm, der hat ihr auch noch seinen kleinen bunten Rucksack angebo- ten. Papa hat gelacht. Rami ist überhaupt ein Schleimer, wenn man ihn lässt. Seitdemmag ihn die Köchin natürlich, sogar Kaugummi hat sie ihm schon mal zugesteckt, weil er so artig schau- en kann mit seinen Kulleraugen, auf die Mama auch so leicht reinfällt. Überhaupt jeder. Kleine Brüder sind die Pest in Menschengestalt. Pest mit Locken. „Die beklaut uns“, habe ich ihm gesagt. „Und du willst ihr auch noch dabei helfen?“ „Aber die ist doch lieb“, hat er gesagt. A26 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 40 42 44 46 48 50 52 54 56 58 60 62 64 66 68 70 72 74 76 78 80 82 84 86 88 Schreiben Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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