sprachreif HUM 2, Schulbuch
24 hen. Und es soll ihre Widerstandskraft gegen gefährliche Heilslehren stärken. Sie lernen dann, dass man Stars nicht vergöttern soll und erst recht keine politischen Führer, dass die Begeiste- rung für den Fußball religiöse Züge annehmen kann, aber auch die für Geld, Karriere oder die eigene Fitness. Schade nur, dass die mächtigste Ersatzreligion, die wenig später im Leben dieser Kinder verhängnisvoll wirken wird, von den Lehrern mit keinem Wort erwähnt und vermut- lich nur von den wenigstenMenschen überhaupt durchschaut wird: die Liebe. Genauer gesagt: jene Art von Liebe, ohne die kein Popsong und kein Film auskommt, diese eine große, wahnsin- nig romantische Liebe, bei der zwei Menschen sich unsterblich ineinander verlieben, vor Lust und Freude fast den Verstand verlieren, wie im Rausch übereinander herfallen und ab dann ein- fach nur noch glücklich, glücklich, glücklich sind. Yeah!!! Nichts und niemand, kein Gott und kein Him- mel, überstrahlt unsere Gegenwart so stark wie der Mythos dieser Liebe. Er ist der Leitstern un- serer Zeit. Der angeblichen Vielfalt der Lebens- stile, dem immer wieder behaupteten Individua- lismus, steht ein global uniformierter Lebensentwurf gegenüber: Der Weg zum Glück ist die leidenscha liche Zweisamkeit, das einzige Ziel des Lebens ist es, Mr. oder Mrs. Right zu µn- den, und dann wird alles gut (und wenn nicht, fängt einfach alles wieder von vorn an – auch gut). Der Mythos Liebe erfüllt alle Kriterien einer Pseudoreligion Von Liebe als Ersatzreligion zu sprechen ist keine augenzwinkernde Übertreibung, sondern Ergeb- nis nüchterner Beobachtung. Denn der Mythos Liebe erfüllt ausnahmslos alle Kriterien einer Pseudoreligion: Diese höhere Macht verlangt Unterwerfung und verspricht imGegenzug Erlö- sung und Heil. Sie duldet keine anderen Götter, verspricht den (siebten) Himmel und droht mit der Hölle des Alleinseins. Die höchsten Feiertage dieser Religion heißen Valentinstag, Hochzeits- tag, Geburtstag. Wer sie nicht angemessen wür- digt, wird mit Liebesentzug bestra . Die Grund- gebete: Ich liebe dich. Du bist mein ein und alles. Ich bin total verrückt nach dir. Die Sakramente: Zungenküsse, Sex. Das sakrale Erkennungszei- chen: rotes Herz. Die Ikonen: Fotos von UNS. Der Altar, der Ort der Erlösung: das Bett. Die Hymnen: UNSERE Songs. Die Heilige Schri : UNSERE Liebesbriefe. Und außerdem jedes herzerweichende Zitat, das dem Gott Liebe hul- digt, vom kleinen Prinzen über Elton John bis zum Apostel Paulus. Man muss Tomaten auf den Augen haben, um den religiösen Charakter dieses Kultes zu überse- hen: Das Herz als Symbol ist in der westlichen Welt längst präsenter als das Kreuz – und wird in seiner Bedeutung sicherlich besser verstanden. In vielen Wohnungen hängen heute genau an den Stellen, wo früher religiöse Symbole, also Kreuz, Madonna oder Weihwasserbecken, hin- gen, Fotos der eigenen Zweisamkeit in endlosen Variationen, Bilder vom großen WIR, von UN- SEREMGLÜCK, Bilder, die es laut herausschrei- en: Wir haben es gescha³, wir lieben uns, wir sind jetzt glücklich!!! Daneben die wie Reliquien verehrten Souvenirs von der ersten gemeinsa- men Reise, dann das erste Geschenk von IHM an SIE oder umgekehrt. Manches Schlafzimmer gleicht heute einem heiligen Schrein, in dem die intimsten Bilder des eigenen Zweisamkeitskultes so präsent und raumprägend sind wie die Ikonen in einer orthodoxen Kirche. Und wenn diese Lie- be erst einmal ihren Höhepunkt in Form einer spektakulären Hochzeit in Weiß erreicht hat, sind die groß±ächigen Hochzeitsfotos das Aller- heiligste, das auf der gedanklichen Rettungsliste für den Brandfall an erster Stelle steht. […] Will jemand ernstha bestreiten, dass die große, ro- mantische Liebe das ultimative Heilsversprechen der Gegenwart ist? Bleibt die Gegenfrage: Na und? Ist es nicht er- freulich, wenn auf dem Altar der Moderne keine Nation und kein Führer stehen, keine Herrenras- se und keine aberwitzige Heilslehre, sondern einfach nur: die Liebe? Was genau soll denn da- ran falsch sein, wenn Menschen ihr Glück in der Partnerschaft suchen? Hilft nicht gerade der Traum von der großen Liebe, die ewige Egozen- trik zu überwinden, endlich DU zu sagen, statt immer nur: ICH? Besser Liebe total als totaler Krieg, oder? […] „Romantische Liebe ist eine schlimme Lüge“ „Der Mythos der romantischen Liebe ist eine schlimme Lüge“, schreibt der amerikanische Psy- 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 40 42 44 46 48 50 52 54 56 58 60 62 64 66 68 70 72 74 76 78 80 82 84 86 88 90 92 94 96 98 100 102 Reflexion Medien 1 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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