sprachreif HUM 2, Schulbuch

200 boarder so wild, laut und betrunken sein dürfen wie sie wollen. Er und ein paar Freunde kau¨en günstig 36 Hektar Land in einer der ärmsten Ge- genden von Ohio. An diesem Ort, so schworen sie sich, werde eines Tages der größte Skatepark der Welt entstehen. Ein Mekka, zu dem Roll- brettfahrer aus aller Herren Länder pilgern wür- den, um zu feiern. Und sie rammten jenes Schild in den Boden, das noch heute an der Einfahrt zum Grundstück steht: „Skatopia. Betreten auf eigene Gefahr.“ […] Martin ist ein Mann in den Vierzigern, aber er wirkt jünger. Vielleicht liegt es an den blonden Surfersträhnen, die in sein sonnengegerbtes Ge- sicht hängen. Vielleicht auch an den Tätowierun- gen, die seine muskulösen Arme zieren. Oder einfach an der überbordenden Energie, mit der er ständig, schnell und laut redet. […] Jeder brauche ein Oberhaupt wie Dschingis Khan, so Martin, und er sei schon immer ein Anführer ge- wesen. […] Angesichts der Herausforderung, den welt- größten Skatepark ohne jedes Budget bauen zu wollen, entpuppte sich Brewce Martin als echter Marketing-Stratege: Er gründete eine Organisa- tion der Skatopia-Unterstützer. Und tau¨e sie auf den Namen „CIA“ − als Kürzel für „Citizens Ins- tigating Anarchy“, Bürger, die zur Anarchie an- sti¨en. Mitglieder der Organisation dur¨en sich verschwörerisch als „Agenten“ bezeichnen. […] Vor allem aber kamMartin eine Idee, wie sie den Skatepark weitestgehend ohne Geld bauen konn- ten: Wer auch immer nach Skatopia kommt, um dort zu feiern, zu trinken und zu skaten, muss sich auch heute noch verp³ichten, mindestens eine Stunde mitzuarbeiten. Und die Leute kamen in Scharen: Vor allem im Sommer, während des jährlichen „Summer Bowl Bash“-Skateboard-Wettbewerbs, verwandelt sich die Farm in eine Art Skatepunk-Woodstock. […] Mittlerweile reisen Leute aus allen Teilen der Welt an, um in der bizarren Skateboard-Kom- mune auszurasten. Für viele Leute sei das so et- was wie ein Urlaubsresort, erklärt Martin. Die Menschen kämen hierher, um sich zu entspan- nen, sich mit Silvesterraketen zu beschießen, Sex mit Fremden zu haben, zu skaten und sich dabei das Bein zu brechen: „Was auch immer es ist, das sie glücklich macht − hier können sie es ausle- ben.“ […] So sehr der Wunsch nach einem Ausbruch aus dem geregelten Alltag sie eint, so verschieden sind die Menschen, die nach Skatopia pilgern: Da sind die Punks, die in Unterhose im Dosen- bierregen Pogo tanzen. Oder alternde Skateboar- der, die noch einmal die wilden Zeiten au³eben lassen wollen. Es kommen Hippies wie der wan- dernde Banjospieler Micah, der auf den Bäumen des Anwesens herumklettert und ständig von seiner „spirituellen Reise“ quasselt. Oder Aus- steiger wie der Alkoholiker Nick, der betrunken einen Autounfall baute, bei dem sein Freund starb − und der nach einemGefängnisaufenthalt als Mechaniker für Schrottautos in Skatopia Fuß fasste. Und natürlich sind es Scharen Halbwüch- siger, die in Skatopia endlich die ihnen von der Erwachsenenwelt auferlegten Regeln sprengen wollen. Das geht natürlich längst nicht immer gut: 2008 etwa wurde Nathan Priest vom Gelände gewor- fen, ein kleiner Junge, gerade 13 Jahre alt. Mit einer Axt hatte er den Wagen eines anderen Be- suchers zertrümmert − in der Annahme, das sei okay so in Skatopia. Es geht rau zu in diesem Pa- radies, in dem man Schönheit vergeblich sucht, das stattdessen nur hässlich, laut und zügellos ist. Und immer wieder sieht man Blut: Das mit Dreck vermischte Blut an den Ellenbogen beim Tanzen Hingefallener. Das frische und tiefrote Blut, das durch das schmutzige T-Shirt quillt, das sich ein Skater nach einem Sturz als improvisier- ten Verband um den Kopf gebunden hat. Und das verkrustete Blut auf den Rücken Betrunke- ner, die sich längst nicht mehr an die Verletzung erinnern. Doch das vielleicht Erstaunlichste an diesemOrt ist, dass all dieses Chaos aus Blut, Exzess und Anarchie auf eine seltsame Weise zu funktionie- ren scheint. All die Jahre gab es keine Toten, kei- ne Vergewaltigungen, keine Schwerverletzten. Denn so martialisch diese seltsame, utopische Welt auf einem Acker in Ohio auf den ersten Blick auch wirkt − was sie ihren Bewohnern wirklich gibt, hat nichts mit Krieg zu tun. Im Gegenteil: Sie «nden Frieden. QUELLE: http://www.spiegel.de/einestages/pilgerstaette-skatopia-freistaat-feiern-a-946975.html ; (abgerufen am 01.06.2016) 34 36 38 40 42 44 46 48 50 52 54 56 58 60 62 64 66 68 70 72 74 76 78 80 82 84 86 88 90 92 94 96 98 100 102 104 106 108 110 112 114 116 118 120 122 124 126 128 Schreiben 6 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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