sprachreif HUM 2, Schulbuch

17 kau, um Arbeit und Lohn zu suchen. Dinara hat mit ihrem Freund nach der Hochzeit noch einmal telefoniert. „Wir haben beide viel geweint.“ Sie erzählt auch von ihrer eigenen, längst verworfenen Idee, in die Türkei zu ziehen und dort zu leben. „Ich wäre wirklich sehr gern gefahren.“ Manchmal überfällt sie die Wehmut, wenn sie an die großen Pläne von damals denkt. „Aber dann kommt Ahmat und tröstet mich. Ich hätte es doch gut getro²en. Und er hat Recht.“ Dinara krempelt die Ärmel ihres Pullovers hoch, sie will wieder an die Arbeit. An ihren Armen sind rote Flecken und verschor e Haut zu sehen. Seit Dinara auf demDorf wohnt, hat sie eine Allergie gegen Gräser. Warum hat sie vor acht Monaten der Heirat zugestimmt? Dinara sagt: „Es ist unsere Tradition. Es gibt keine andere Lösung.“ Russell Kleinbach, emeritierter Professor für Soziologie an einer Privatuni in Philadelphia, untersucht seit Ende der Neunzigerjahre den Brautraub in Zentralasien. Den bezeichnet man in Kirgisistan als „Ala Kaschtu“, übersetzt: ergreifen und weglaufen. Und obwohl der Ausdruck ein alter Begri² der kirgisischen Sprache ist, wird Rus- sell Kleinbach sehr bestimmend und macht lange Pausen zwischen den einzelnen Wörtern, als er sagt: „Der Brautraub in Kirgisistan ist keine Tradition.“ Geraubt haben die kirgisischen Männer ihre Frau- en vereinzelt zwar auch schon im 18. Jahrhundert. Aber damals schmiedete das Liebespaar gemeinsam diesen Plan, weil die Eltern gegen die Verbindung waren oder die Eltern der Frau den Brautpreis nicht bezahlen konnten. Es war jede Menge Romantik und Wagemut im Spiel, wenn Mann und Frau zusammen durchbrannten. Die kir- gisische Kultur begründet sich auf das Volksepos von Manas, eine Art kirgisischer Siegfried. „Wenn der Brautraub Tradition wäre, dann wäre es im Manas beschrieben“, sagt Russell Kleinbach. Das Werk umfasst 500 000 Verse, vom Brautraub ist nicht ein Mal die Rede. Stattdessen reitet Manas’ Vater Jakib achtzig Seiten lang durch das Land, um eine Braut für seinen Sohn zu µnden. Von den Eltern ar- rangierte Ehen haben sehr wohl Tradition in Kirgisistan. Der Braut- raub nicht. Der ist eine Erfindung aus den Sowjetjahren. „Ala Kaschtu kam vor etwa vierzig, fünfzig Jahren verstärkt auf, die Zah- len stiegen vor allem nach 1991 stark“, sagt Russell Kleinbach. Nach der Oktoberrevolution propagierten die sowjetischen Führer in Kir- gisistan die Gleichstellung von Mann und Frau. Arrangierte Ehen waren unter den jungen Kirgisen bald verpönt. Gut möglich, dass die Männer und Frauen ihre neue Freiheit bei der Partnerwahl de- monstrierten, indem sie auf die alte Form des Brautraubs in gegen- seitigem Einverständnis zurückgri²en. „Dann aber begannen Män- ner und ihre Familien die Frauen gegen ihren Willen zu rauben, von Jahrzehnt zu Jahrzehnt stiegen die Zahlen.“ Der US-amerikanische Journalist ºomas Morton kommt am Ende seines Dokumentarµlms über kirgisischen Brautraub zu einem ganz simplen Schluss: „Kirgi- sische Männer rauben Bräute aus demselben Grund, weshalb sich Hunde ihre Eier lecken: einfach weil sie es können.“ […] QUELLE: Stern NEON. Hamburg: Verlag Gruner und Jahr, September 2013. S. 64 bis 71. 40 42 44 46 48 50 52 54 56 58 60 62 64 66 68 70 72 74 76 78 80 82 84 86 Eine Zusammenfassung schreiben Schritt 1: Planen Schreiben Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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