sprachreif HUM 2, Schulbuch

164 Vernunft und Verstand − die Aufklärung Die Epoche der Aufklärung kennzeichnet sich besonders dadurch, dass die Menschheit erstmals dazu aufgefordert wird, nicht mehr blinden Gehorsam gegenüber den bisherigen übermächtigen Institu- tionen Staat und Kirche zu üben, sondern selbst für sich zu entscheiden und zu denken. Diese Forde- rung war für die Machtinhaber mit großen Gefahren verbunden, da sie praktisch zum Widerstand gegen die Mächtigen aufrief. Diese Zeit zwischen dem 17. und 18. Jahrhundert legte die Basis für viele Entwicklungen und soziale wie politische Veränderungen. Der eigene Verstand des Menschen stand im Mittelpunkt dieser Epoche und die „Erleuchtung“ (Enlightenment) der Menschen durch die Wahrheit war das erklärte Ziel von Literaten und Philosophen. Immanuel Kant und seine Bedeutung Immanuel Kant (1724–1804) war einer der bedeutendsten Aufklärer und übte mit seinen Schriften einen großen Einfluss auf die Epoche und die Gesell- schaft aus. Seine Bedeutung für die Zeit der Aufklärung kann kaum über- schätzt werden. Daher wurde auch sein Werk, das die Frage „Was ist Aufklä- rung?“ beantwortet, zu einem der bekanntesten in der deutschen Literatur. Lesen Sie nun einen Auszug aus Kants Text. Beantworten Sie folgende Fragen im Plenum: Welche Forderungen stellt Kant? Gegen wen richten sich seine Forderungen? Was sieht Kant als Ursache für die Missstände? Immanuel Kant: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? Au»lärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Un- mündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Ver- standes ohne Leitung eines anderen zu bedie- nen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Au»lärung. Faulheit und Feigheit sind die Ursachen, warum ein so großer Teil der Menschen, nachdem sie die Natur längst von fremder Leitung frei ge- sprochen (naturaliter maiorennes), dennoch gerne zeitlebens unmündig bleiben; und warum es Anderen so leicht wird, sich zu deren Vor- mündern aufzuwerfen. Es ist so bequem, un- mündig zu sein. Habe ich ein Buch, das für mich Verstand hat, einen Seelsorger, der für mich Ge- wissen hat, einen Arzt, der für mich die Diät be- urteilt, u.s.w., so brauche ich mich ja nicht selbst zu bemühen. Ich habe nicht nötig zu denken, wenn ich nur bezahlen kann; andere werden das verdrießliche Geschä– schon für mich überneh- men. Daß der bei weitem größte Teil der Men- schen (darunter das ganze schöne Geschlecht) den Schritt zur Mündigkeit, außer dem daß er beschwerlich ist, auch für sehr gefährlich halte: dafür sorgen schon jene Vormünder, die die Oberaufsicht über sie gütigst auf sich genom- men haben. Nachdem sie ihr Hausvieh zuerst dumm gemacht haben und sorgfältig verhüte- ten, daß diese ruhigen Geschöpfe ja keinen Schritt außer dem Gängelwagen, darin sie sie einsperrten, wagen dur–en, so zeigen sie ihnen nachher die Gefahr, die ihnen droht, wenn sie es versuchen allein zu gehen. Nun ist diese Gefahr zwar eben so groß nicht, denn sie würden durch einigemal Fallen wohl endlich gehen lernen; al- lein ein Beispiel von der Art macht doch schüch- tern und schreckt gemeinhin von allen ferneren Versuchen ab. Es ist also für jeden einzelnen Menschen schwer, sich aus der ihm beinahe zur Natur gewordenen Unmündigkeit herauszuarbeiten. Er hat sie so- gar lieb gewonnen und ist vor der Hand wirklich unfähig, sich seines eigenen Verstandes zu be- C A33 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 40 42 44 46 48 Reflexion Literatur 5 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

RkJQdWJsaXNoZXIy ODE3MDE=