sprachreif HUM 2, Schulbuch

143 Schmerz ist eine extrem subjektive Emp³ndung. Was den einen die Wände hochtreibt, emp³ndet der andere womöglich als stimulierend. Schmerz und Lust liegen eng beieinander. Marathonläufer werden für ihre Schinderei o–mit einemGlücks- gefühl (dem runners high ) belohnt; Masochisten gelangen dank Schmerz zum Orgasmus; und of- fenbar können sogar schärfste mexikanische Chilisuppen Entzücken auslösen. Diese Hochge- fühle sind möglich, weil Schmerz ein Lehrmeis- ter ist, der nicht nur die Peitsche kennt, sondern auch das Zuckerbrot – in Gestalt sogenannter Endorphine. Die körpereigenen Botensto†e werden immer dann im Gehirn ausgeschüttet, wenn wir eine positive Lernerfahrung machen.[…] Schädliche Aktionen werden durch Schmerz bestra–, er- folgreiche mit einer Prise Endorphin versüßt. Vor allem das Abebben unangenehmer Erfah- rungen wird als Belohnung empfunden. Herr- lich, wenn der Schmerz nachlässt. Genau das macht sich die moderne Schmerzbe- kämpfung zunutze: Statt die negative Emotion lediglich abstellen zu wollen, versucht sie gezielt, positive Emotionen anzuregen und damit die Endorphin-Produktion imGehirn anzukurbeln. Das Erlebnis, dass eine scharfe Suppe uns nicht vergi–et, sondernWohlgefühl spendende Boten- sto†e im Hirn freisetzt, ist ein gelungenes Spiel mit dem Lehrmeister Schmerz. Wir nehmen die Schärfe gern in Kauf, weil der Geschmack des Essens dadurch intensiver wird. Entscheidend ist dabei die Bilanz der Emotionen. Die Aussicht auf einen Erfolg lässt uns vielerlei Pein ertragen: Selbst die fürchterlichen Schmerzen einer Ge- burt weichen alsbald der Freude, liegt erst das Neugeborene im Arm der Mutter. „Schmerz ist eben nicht immer gefährlich“, sagt die norwegi- sche Psychologin Siri Leknes, die in ihrem Labor mögliche positive E†ekte des Schmerzes unter- sucht. 40 42 44 46 48 50 52 54 56 58 60 62 64 66 68 70 72 74 76 78 80 82 84 86 88 90 92 94 96 98 100 102 104 106 108 110 112 Aber wie lässt sich der unangenehme Schmerz in eine erträgliche Erfahrung umwandeln? In —e- rapien geht es zunächst darum, das Gefühl der Hil¬osigkeit zu überwinden. Noch schlimmer als der Schmerz kann nämlich die Angst davor sein. Wer sich als Opfer des Schmerzes fühlt, je- des Zwicken ängstlich registriert, wird zur Geisel der Qual. Wer sich jedoch selbst als Akteur er- lebt, wer sein Schmerzemp³nden bewusst beein- ¬ussen kann, ist weit besser dran. Allein das Wis- sen darum, dass Schmerz im Kopf entsteht und nicht jeder Stich für einen bedrohlichen Körper- schaden steht, kann den Schmerz lindern. Strate- gien moderner Schmerztherapeuten versuchen, den Patienten die Kontrolle über das Schmerz- empfinden zurückzugeben. Gegen akute Schmerzen hil– es zum Beispiel, das Gehirn ge- zielt vom unangenehmen Reiz abzulenken. Als vermeintlich erfolgreiche Vertreter dieser Lehre fallen die stoischen Fakire auf ihren Nagel- betten auf – aber ihre Gelassenheit beruht auf einem Trick. Durch die Vielzahl der Nägel ver- teilt sich der Druck der Spitzen auf erträgliche Weise. Der Sonnentanz der amerikanischen Lakota-Indianer demonstriert hingegen das be- täubende Potenzial der Konzentration viel bes- ser. Die Tänzer lassen sich die Haut durchboh- ren, fädeln Seile durch die Löcher und ³xieren diese für eine Nacht an einem Stamm. Im Mor- gengrauen reißen sie sich dann, ganze Haut- stücke zurücklassend, scheinbar schmerzfrei von diesemBaum des Lebens los. Es gibt Mutmaßun- gen, dass der Spruch „Ein Indianer kennt keinen Schmerz“ auf diese Zeremonie zurückgeht. […] „E-Schmerz“ bestellt. Bösen, krankheitsbeding- ten Schmerz bekämpfen wir mit allen Mitteln. 153 Millionen Packungen Schmerzmittel, soge- nannte Analgetika, wurden bei uns 1 2013 ver- kau–, etwa zwei Drittel davon ohne Rezept. […] 34 36 38 Schreiben Kompetenz- check Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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