sprachreif HUM 2, Schulbuch

112 Der K(r)ampf mit der Anrede Von Birgit Knop | Dezember 2012 […] Die deutsche Sprache, immerhin eine der zehn wichtigsten weltweit, gilt als schwere Sprache. 90 Millionen Muttersprachler sprechen sie perfekt, 55 Millionen haben sie als Fremdsprache gebüf- felt – doch über zwei unscheinbare Wörter stol- pern fast alle: DU und SIE sorgen für Chaos in der deutschen Sprache. Selbst der Duden hat die beiden Anredepronomen nicht imGri . Sinnge- mäß heißt es hier: Die Form DU mit ihren ent- sprechenden Bedeutungsformen („dir“, „dich“) ist die vertrauliche Anrede und die Anrede von Kindern. Das SIE hat sich hingegen aus der drit- ten Person des Plurals entwickelt und gilt als die hö¡iche, achtungsvolle Anrede. Wenig hilfreich auch der „Knigge“: Er schreibt schlicht, das SIE sei die Regel und das DU die Ausnahme. Im sprachlichen Dschungel des Alltags hil¥ uns bei- des nicht weiter. Hil¡os stolpern wir durch ein Wirrwarr von Möglichkeiten: Bei der Anrede haben wir die Qual der Wahl. „Lieber Gott, hilf mir!“ Warum duzen wir Gott, die oberste aller Instanzen? Aber den Polizisten auf der Straße müssen wir siezen, ansonsten droht uns eine Anzeige wegen Beamtenbeleidi- gung. Wurde auf einer Beerdigung die Leiche im Sarg jemals mit SIE angeredet? Nein. Hier gilt das DU. Warum ausgerechnet bei den Toten? […] Bei Ikea wird kategorisch jeder geduzt. Soll- te ein Kunde jedoch seinenWagen falsch geparkt haben, lautet die Durchsage imMöbelhaus: „Der Fahrer des Wagens xyz …Würden SIE bitte….“ usw. Und dann gibt es noch die 3000-Meter-Re- gel: Oberhalb davon ist in den Bergen ausnahms- los das DU angesagt. Beim Bergrettungsdienst und auch beimMilitär. […] Langsam reicht es, denken viele Bürger. Sie är- gern sich über die o ensive Duzerei im Öko- laden, in der Werbung, im Fitness-Studio und häu²g sogar am Arbeitsplatz. Schon 1998 klagte ein Hennes-&-Mauritz-Angestellter in Hamm gegen die Zwangs-Duzerei unter seinen Kol- legen. Er sei schließlich 45 und „kein junger Hüpfer mehr“, schimp¥e der Mann – und bekam recht. […] [D]ie sprachliche Balance zwischen Ver- traulichkeit und Distanz, Hierarchie und Nähe [ist] in Schie¡age geraten. Täglich erleben wir, wie der DU-SIE-Kon¡ikt die eigene gesellscha¥- liche Identität und Gruppenzugehörigkeit infra- ge stellt. Peter Walschburger, Psychologe an der FU Berlin, scheint dies nicht weiter zu beunruhi- gen. Er sagt: „Die verbale Distanzregelung schwankt mit den Zeitläufen.“ […] Noch bis in die 1960er Jahre setzten die An- redepronomen eindeutige Signale, und ihre Handhabung war relativ einfach. Der Gebrauch von Du und SIE klärte die Rollenverteilung unter den Menschen und teilte sie ein in Vorgesetzte und Untergebene, Familie und Freunde. Die bür- gerlichen Anredekonventionen unterlagen einer strengen Regelung. Ebenso der Übergang vom SIE zum DU. Wer darf wem wann und warum das DU anbie- ten? Die ältere Person der jüngeren, die sozial höher stehende der niedriger stehenden, der Mann der Frau? Als Zeichen langer Bekannt- scha¥, Wertschätzung und Sympathie trank man im aufstrebenden Nachkriegsdeutschland Brü- derscha¥ (Schwesternscha¥ gab es nicht). Besie- gelt wurde dieses Ritual mit einer herzlichen Umarmung. Der Übergang vom SIE zum DU hatte den Cha- rakter eines Privatvertrags, den man nicht ohne Weiteres wieder rückgängig machen konnte. Umso peinlicher war das Schnaps-DU nach ei- ner durchzechten Nacht. Aber abgesehen von derartigen Ausrutschern war die Welt der Anre- de noch in Ordnung. Die amerikanischen Sprachwissenscha¥ler Roger W. Brown und Al- bert Gilman sprechen 1960 in einemAufsatz von den „Anredepronomen der Macht und Solidari- tät“. DU und SIE, so die Autoren, könne man in ihrer Verwendung auf zwei Dimensionen zu- rückführen: eine vertikale und eine horizontale. Die vertikale Dimension zeichnet sich durch Asymmetrie zwischen anredender und ange- redeter Person aus. Das bedeutet, die rangniedri- gere Person wird mit DU angesprochen, muss aber ein SIE zurückgeben. Die Autoren nennen 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 40 42 44 46 48 50 52 54 56 58 60 62 64 66 68 70 72 74 76 78 80 82 84 86 88 90 Schreiben Semester- check Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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