sprachreif HAK/HTL 4/5, Schulbuch

65 „Ansturm der Armen“ – entmenschlichende Metaphern Das zeigt, wie schwierig es ist, die polyphonen 1 , dichten Zeichen der Sprache genau einem Sinn zuzuordnen. „Keiner denkt bei demWort gerade und genau das, was der andre denkt“, schrieb be- reits Wilhelm von Humboldt, „und die noch so kleine Verschiedenheit zittert, wie ein Kreis im Wasser, durch die ganze Sprache fort. Alles Ver- stehen ist daher immer zugleich ein Nicht-Ver- stehen.“ Metaphern Oftmals verwenden wir sprachliche Bilder, ohne uns deren metaphorischen Charakters bewusst zu sein. Das Wort Asylant wird während der Asyldebatte beispielsweise oft zusammen mit Sprachbildern verwendet, die mit Chaos und Be- drohung assoziiert werden. Oft sind es Meta- phern, die mit Wasser zu tun haben: Flut, Strom, Welle. Die „Asylantenflut“ muss „eingedämmt“ werden. „Das Boot ist voll.“ Auch Militärmetaphorik wird immer wieder verwendet („Ansturm der Armen“, „Abwehr ille- galer Einwanderer“, „Lage an den Ostgrenzen verschärft“, „Einfallsroute“) oder Warenmeta- phorik („Import“ und „Export“ von Arbeitskräf- ten). Das hat eine schwerwiegende, enthumanisieren- de Wirkung: „Unser Denken ist vielfach meta- phorisch geprägt. Sprache und Denken sind unauflösbar miteinander verbunden“, sagt Wis- senschaftler Wengeler. Diskussion um Sprachkritik Die Debatte um Worte sei eine Scheindebatte, erklären Gegner der politischen Korrektheit. Unnötig verkompliziert würde die deutsche Sprache. An der gesellschaftlichen Realität der Betroffenen würden auch andere Begriffe nichts ändern. Ob es nun Asylbewerber hieße, Asylant oder Flüchtling: Sind das nicht Wortklauberei- en? „Wenn man sprachlich respektvoll und höflich sein will, muss man manchmal etwas mehr Auf- wand betreiben“, glaubt Wengeler. Er plädiert dafür, auf die Gruppen, die von abwertendem Sprachgebrauch betroffen sind, Rücksicht zu nehmen. „Das ist nicht zu viel verlangt, darüber nachzudenken und sprachsensibel zu handeln.“ Und wenn man Menschengruppen sprachlich abwertet, erscheint es dann nicht auch legitimer und einfacher, gewalttätig gegen diese vorzuge- hen? In der Asyldebatte wurde immer wieder darüber diskutiert, inwieweit Sprache auch die rassistischen Übergriffe der damaligen Zeit be- feuert hat , zum Beispiel 1992 in Rostock-Lich- tenhagen. […] 1 mehrstimmigen QUELLE: https://www.sueddeutsche.de/politik/spracheimmigrationsdiskurswarumasylanteinkillwortist1.2262201 ; (abgerufen am 15.08.2020) 58 60 62 64 66 68 70 72 74 76 78 80 82 84 86 88 90 92 94 96 98 100 102 104 106 108 110 112 Infobox: Ausschreitungen in Rostock-Lichtenhagen Zwischen dem 22. und dem 26. August 1992 kam es in Rostock-Lichtenhagen zu schweren ausländer- feindlichen Ausschreitungen. Ein Asylbewerberheim und eine Unterkunft von vietnamesischen Ver- tragsarbeiterinnen und Vertragsarbeitern wurde von Neonazis und Randalierenden angegriffen – unter dem Beifall von wütenden Anwohnerinnen und Anwohnern. Am 24. August steckten die Angreifer das Wohnheim der Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter mit Molotowcocktails in Brand. Mehr als 100 Menschen konnten über das Dach in ein Nebengebäude fliehen. Erstellen Sie eine Liste mit acht bis zehn Tipps für einen verantwortungsvollen Sprachgebrauch. Zwischenstopp Sie haben sich mit folgenden Teilkompetenzen auseinandergesetzt: • ein Bewusstsein für politisch korrekte Sprache entwickeln • über die Schwierigkeiten von Sprachveränderungen reflektieren können A49  Sprach- reflexion Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

RkJQdWJsaXNoZXIy ODE3MDE=