sprachreif HAK/HTL 4/5, Schulbuch

206 bisschen blass noch, aber gut gelaunt. Wie alle hier trägt sie Shorts und Flipflops. Es ist die Uni- form der digitalen Nomaden. Sie haben den Bü- roalltag westlicher Großstädte abgestreift wie die Lederschuhe, Hemden und Anzughosen, die sie in ihrem früheren Leben trugen. Das Hauptquartier der neuen Lebensform ist ein ehemaliges Hotel und heißt Roam. Wie „umher- schweifen“. Oder auch wie „immer online“. Zwei Österreicher und ein Amerikaner haben die Im- mobilie in der Kleinstadt Ubud vor drei Monaten angemietet, 24 Zimmer, zwei Stockwerke, viel Stein und Holz, der Entwurf eines Berliner Ar- chitekten. Zum Hotel hatte das Gebäude nicht getaugt, zu hohe Kosten für zu wenige Zimmer. Als temporäres Zuhause für Menschen, deren Büro in ein Notebook passt, eignet es sich bes- tens: ein Innenhof mit Pool und offener Gemein- schaftsküche, drei Dachterrassen, jede so groß wie ein Tennisplatz. Anfang Mai haben die Roam-Erfinder die erste Dependance 2 in Miami eröffnet, die nächsten sollen in Madrid, Buenos Aires und London fol- gen, dann an weiteren Orten. Für 1800 Dollar pro Monat bekommt man ein Bett und schnelles WLAN überall auf der Welt. Ziel ist, die Infra- struktur für ein modernes Nomadendasein zu schaffen. Coliving ist die Steigerung des Cowor- king-Trends – nicht nur ein allen offenes, flexib- les Büro zu teilen, sondern dort auch zu wohnen. In der offenen Küche neben dem Pool schnip- peln die Britin Terri und ein kanadischer Grafik- designer Zwiebeln, Auberginen, Feta und Toma- ten, sie wollen Omeletts braten. Erst heute Morgen haben die balinesischen Angestellten die Arbeitsflächen und den Herd mit einem hindu- istischen Ritual eingeweiht: Sie haben aus Kokos- blättern geflochtene Blütenkörbchen mit Räu- cherstäbchen aufgestellt und einen Segen gesprochen. Die meisten Bewohner haben schon lang nicht mehr selbst gekocht. Der Anreiz schwindet, wenn man zwischen so vielen Restau- rants wählen kann, wo Müsli mit Cashewnuss- milch, Frühlingsrollen aus Papaya-Mango-Reis- blättern, Blaubeer-Smoothies, Sushi oder vegane Burger kaum etwas kosten. Der Superfood-Trend dominiert die Speisekarten, keiner missioniert, aber Fleisch ist doch eher out. […] Manche Roam-Bewohner sind noch im Modus des sehr langen Auslandsaufenthalts, wie die Bri- tin Terri, andere haben schon seit Jahren kein Zuhause mehr, wie der Bulgare Georgio. Als er vor acht Jahren die Schule verließ und den Ent- schluss fasste, um die Welt zu ziehen, schlief er erst mal einen Winter lang in New York bei Freunden auf einer Luftmatratze. „Heute mag das glamourös klingen“, sagt er, „aber ich war borderline 3 obdachlos.“ In Costa Rica hat er eine Vermittlungsagentur für Sprachschulen gegrün- det, in Schweden ein Studium in Unternehmer- tum absolviert und in London für Techstars ge- arbeitet, den wichtigsten Beschleuniger für Unternehmensgründungen. In Costa Rica war der Kontakt zu den Einheimischen besser und der Zeitunterschied zu den Vereinigten Staaten geringer, aber die Infrastruktur auf Bali ist un- schlagbar: wahnsinnig günstig, kaumKriminali- tät, kurze Wege (auch zum Strand) und das In- ternet schneller als überall sonst. Blasse Haut im Sommerparadies Wenn diese Insel einen Nachteil hat, dann den, dass Georgio, der eine Firma mit mehreren An- gestellten leitet, sich ständig rechtfertigen muss. Die Menschen im Westen können sich nämlich nicht vorstellen, dass im Ferienparadies Bali ir- gendjemand ernsthaft arbeitet. „Meine Eltern denken noch immer: Erfolgreiche Menschen le- ben in London oder New York“, sagt er. Dabei arbeite er auf Bali fokussierter als in einem ver- glasten Büro einer abendländischen Metropole. Schwer zu sagen, wie viele Westler sich mit Note- book auf Bali aufhalten, einige Tausend dürften es schon sein. Seit drei Jahren schießen soge- nannte Coworking Spaces aus dem Boden wie Reispflanzen in der Regenzeit. Der erste war Hu- bud – Hub in Ubud. Mehrere Hundert Mitglie- der, Skype-Kabinen, klimatisierte Sitzungsräu- me, Schreibtische unterm Ventilator mit Blick auf Bananenpalmen. Am Eingang stapeln sich die Flipflops, drinnen sind alle barfuß. Manch- mal klettert ein Äffchen aus dem angrenzenden Wald über die Mauer. Junge Frauen und Männer auf Sitzsäcken und in Hängematten gestikulieren in ihr Smartphone. Der kalifornische Program- mierer aus dem Roam hat sich Hubud mal ange- schaut und war ein bisschen schockiert, dass die Menschen hier noch ernsthafter arbeiten. Alle versunken in ihre Bildschirme, Unterhaltungen nur im Flüsterton. Trotz 33 Grad im Schatten sind manche so blass, als seien sie lange nicht mehr an der Sonne gewesen. 26 28 30 32 34 36 38 40 42 44 46 48 50 52 54 56 58 60 62 64 66 68 70 72 74 76 78 80 82 84 86 88 90 92 94 96 98 100 102 104 106 108 110 112 114 116 118 120 122 124 126 Reflexion Medien Sprach- reflexion Schreiben 6  Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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