sprachreif HAK/HTL 4/5, Schulbuch

200 menhang allerdings ein Widerspruch: Häufig verleiht unsere intellektuelle Elite dem Wort Schriftsteller einen derart emphatischen Klang, dass man glauben könnte, jemand, der eine gute Geschichte oder ein hervorragendes Gedicht schreiben kann, habe deshalb auch die Pole Posi- tion inne im Rennen um neue soziale und kultu- relle Werte. Zugleich besteht diese Elite fast aus- nahmslos auf der Feststellung, dass Literatur und Moral, Ästhetik und Ethik zwei strikt zu tren- nende Sphären seien. Der Philosoph Zygmunt Baumann nennt die Moderne ein „gigantisches Unternehmen zur Abschaffung individueller Verantwortung“. Tat- sächlich haben zahllose Wissenschaftler in die- sem Jahrhundert bei der Entwicklung von Mas- senvernichtungswaffen moralische Bedenken kurzerhand beiseitegeschoben. Aber sie waren nicht die Einzigen, die sich von der unbezweifel- baren persönlichen Verantwortung für die eige- ne Arbeit ab- und einem weltenthobenen Ideal von Fortschritt und Machbarkeit zugewandt ha- ben. Sie folgten vielmehr einer Tendenz, die sich um die Jahrhundertwende in Literatur und Kunst immer deutlicher abzeichnete. Es waren Künstler und Schriftsteller, die als erste darauf bestanden, dass der Wert einer künstlerischen Arbeit ausschließlich nach ästhetischen Krite- rien zu beurteilen sei. […] Tatsächlich wird jeder Versuch, Literatur nach moralischen Kriterien zu beurteilen, gewöhnlich einer zutiefst antimo- dernen Haltung bezichtigt. Gewöhnlich zu Recht. Meist sind es aufgebrachte Stammtisch- hocker oder die Paladine 1 irgendwelcher Tyran- nen, die von BüchernMoral verlangen. Aber die- se Stammtischhocker haben genauso an Boden verloren wie die intellektuellen Eliten. Mittler- weile findet der gewöhnliche Kulturkonsument das Unmoralische höchst unterhaltsam. Die Selbstimmunisierung von Wissenschaft, Kunst und Literatur gegen jede Form von moralischen Bedenken war auch beim Publikum höchst er- folgreich. Doch es gab auch immer die anderen. Schrift- steller etwa, die eine Repolitisierung und Remo- ralisierung der Literatur forderten, weil sie der Meinung waren, dass die Kommunikation zwi- schen Schriftstellern und Lesern nicht in einem extraterrestrischen 2 Raum stattfindet, sondern in der Mitte der Gesellschaft mit all ihren poli- tischen, sozialen und moralischen Konflikten. Solche Autoren waren oft eng mit bestimmten politischen Bewegungen verbunden. So eng, dass das Schicksal der jeweiligen Bewegungen auch zu ihrem literarischen Schicksal wurde. In der ehemaligen DDR beispielsweise gab es Hunderte von Schriftstellern, die mit ihren Bü- chern die Idee des Kommunismus mehr oder weniger deutlich unterstützten. Nun, nach dem Zusammenbruch des realen Sozialismus, hat der öffentliche Diskurs in einem an Gehirnwäsche erinnernden Prozess die Liste nennenswerter DDR-Autoren auf fünf oder sechs Namen zu- rückgestutzt. Ist es ein Wunder, wenn Engage- ment bei Autoren zurzeit nicht gerade hoch in Kurs steht? […] In einer liberalen Gesellschaft wäre es letzt- lich wohl lächerlich, wollte man noch einmal al- len Ernstes die Frage stellen, was Literatur soll oder nicht soll. Es ist heute vielmehr eine Frage der Haltung und der Persönlichkeit eines Autors, ob er seine Bücher mit den sozialen oder poli- tischen Diskursen seiner Zeit in Verbindung bringen will. QUELLE: https://www.welt.de/print-welt/article544380/Die-Schriftsteller-und-die-Moral-Plaedoyer-fuer-eine-neue-engagierte-Literatur.html; (abgerufen am 19.09.2017) 1 Paladin, der: treuer Gefolgsmann, Anhänger (oft spöttisch) 2 extraterrestrisch: außerirdisch 24 26 28 30 32 34 36 38 40 42 44 46 48 50 52 54 56 58 60 62 64 66 68 70 72 74 76 78 80 82 84 86 88 90 92 94 96 Merkenswert: Die Aufgabenstellung zum Kulturportfolio bei der mündlichen Prüfung (HAK) In der HAK gibt es bei der mündlichen Prüfung einen zweiten Teil, der den gewählten Themenbereich mit dem Kulturportfolio verknüpft. Hier finden Sie Beispiele, wie die Aufgabenstellung dazu formuliert sein kann: In Ihrem Kulturportfolio haben Sie einen Schwerpunkt zum Thema … gesetzt. Erklären Sie Ihren persönlichen Zugang zur Problemstellung/zum Thema. Kultur- Portfolio S Lesen Zuhören und sprechen Reflexion Literatur 6  Nu r zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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