sprachreif HAK/HTL 4/5, Schulbuch

185 Georg Büchner (1813–1837): Woyzeck Beim Hauptmann Hauptmann auf dem Stuhl, Woyzeck rasiert ihn. Hauptmann: Langsam, Woyzeck, langsam; eins nach dem andern! Er macht mir ganz schwind­ lig. Was soll ich dann mit den 10 Minuten anfan­ gen, die Er heut zu früh fertig wird? Woyzeck, bedenk Er, Er hat noch seine schönen dreißig Jahr zu leben, dreißig Jahr! Macht dreihundert­ sechzig Monate! und Tage! Stunden! Minuten! Was will Er denn mit der ungeheuren Zeit all anfangen? Teil Er sich ein, Woyzeck! Woyzeck: Jawohl, Herr Hauptmann. Hauptmann: Es wird mir ganz angst um die Welt, wenn ich an die Ewigkeit denke. Beschäfti­ gung, Woyzeck, Beschäftigung! Ewig: das ist ewig, das ist ewig – das siehst du ein; nur ist es aber wieder nicht ewig, und das ist ein Augen­ blick, ja ein Augenblick – Woyzeck, es schaudert mich, wenn ich denke, daß sich die Welt in ei­ nem Tag herumdreht. Was ’n Zeitverschwen­ dung! Wo soll das hinaus? Woyzeck, ich kann kein Mühlrad mehr sehen, oder ich werd melan­ cholisch. Woyzeck: Jawohl, Herr Hauptmann. Hauptmann: Woyzeck, Er sieht immer so ver­ hetzt aus! Ein guter Mensch tut das nicht, ein guter Mensch, der sein gutes Gewissen hat. – Red er doch was Woyzeck! Was ist heut für Wet­ ter? Woyzeck: Schlimm, Herr Hauptmann, schlimm: Wind! Hauptmann: Ich spür’s schon. ’s ist so was Ge­ schwindes draußen: so ein Wind macht mir den Effekt wie eine Maus. – Pfiffig: Ich glaub’, wir ha­ ben so was aus Süd-Nord? Woyzeck: Jawohl, Herr Hauptmann. Hauptmann: Ha, ha ha! Süd-Nord! Ha, ha, ha! Oh, Er ist dumm, ganz abscheulich dumm! – Gerührt: Woyzeck, Er ist ein guter Mensch – aber – Mit Würde: Woyzeck, Er hat keine Moral! Moral, das ist, wenn man moralisch ist, versteht Er. Es ist ein gutes Wort. Er hat ein Kind ohne den Segen der Kirche, wie unser hocherwürdi­ ger Herr Garnisionsprediger sagt – ohne den Segen der Kirche, es ist nicht von mir. Woyzeck: Herr Hauptmann, der liebe Gott wird den armen Wurm nicht drum ansehen, ob das Amen drüber gesagt ist, eh er gemacht wurde. Der Herr sprach: Lasset die Kleinen zu mir kom­ men. Hauptmann: Was sagt Er da? Was ist das für eine kuriose Antwort? Er macht mich ganz konfus mit seiner Antwort. Wenn ich sag’: Er, so mein’ ich Ihn, Ihn – Woyzeck: Wir arme Leut – Sehn Sie, Herr Hauptmann: Geld, Geld! Wer kein Geld hat – Da setz einmal eines seinesgleichen auf die Moral in der Welt! Man hat auch sein Fleisch und Blut. Unsereins ist doch einmal unselig in der und der andern Welt. Ich glaub’, wenn wir in Himmel kä­ men, so müßten wir donnern helfen. Hauptmann: Woyzeck, Er hat keine Tugend! Er ist kein tugendhafter Mensch! Fleisch und Blut? Wenn ich am Fenster lieg’, wenn’s geregnet hat, und den weißen Strümpfen nachseh’, wie sie über die Gassen springen – verdammt, Woyzeck, da kommt mir die Liebe! Ich hab’ auch Fleisch und Blut. Aber, Woyzeck, die Tugend! Die Tu­ gend! Wie sollte ich dann die Zeit rumbringen? Ich sag’ mir immer: du bist ein tugendhafter Mensch – gerührt: – , ein guter Mensch, ein guter Mensch. Woyzeck: Ja, Herr Hauptmann, die Tugend – ich hab’s noch nit so aus. Sehn Sie: wir gemeine Leut, das hat keine Tugend, es kommt nur so die Natur; aber wenn ich ein Herr wär und hätt’ ein’ Hut und eine Uhr und eine Anglaise und könnt’ vornehm reden, ich wollt’ schon tugendhaft sein. Es muß was Schönes sein um die Tugend, Herr Hauptmann. Aber ich bin ein armer Kerl! 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 40 42 44 46 48 50 52 54 56 58 60 62 64 66 68 70 72 74 76 78 80 Sprach- reflexion Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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