sprachreif HAK/HTL 4/5, Schulbuch

179 Das Geburtsdatum beweist, dass die Wahrheit wie so oft in der Mitte liegt. Ihr Gesicht strahlt jene besondere Anmutung von Sauberkeit aus, die wir auch an den Anwesenden beobachten können und die allen Mienen etwas Unberühr­ tes, Altersloses, fast Kindliches gibt: den Aus­ druck von Menschen, die ein Leben lang von Schmerz verschont geblieben sind. Zutraulich blickt Mia den Betrachter an. Ihr nackter Körper ist schmal und zeigt dennoch eine drahtige Kon­ stitution von hoher Widerstandskraft. Kramer richtet sich auf. „Wohl wieder ein Bagatelldelikt.“ Sophie blickt in die neue Akte und unterdrückt ein Gähnen. „Wiederholen Sie den Namen.“ Das war Kramer. Obwohl er nicht laut gesprochen hat, bringt sei­ ne Stimme jeden beliebigen Vorgang im Raum sofort zum Erliegen. Überrascht schauen die drei Juristen auf. „Mia Holl“, sagt Sophie. Mit einer Bewegung, als wolle er Fliegen ver­ scheuchen, bedeutet Kramer der Richterin, die Güteverhandlung fortzusetzen. Gleichzeitig zieht er einen elektronischen Kalender aus der Tasche und beginnt, sich Notizen zu machen. Sophie und Rosentreter wechseln einen schnel­ len Blick. „Was liegt vor?“, fragt Sophie. „Vernachlässigung der Meldepflichten“, sagt Bell. „Schlafbericht und Ernährungsbericht wurden im laufenden Monat nicht eingereicht. Plötzli­ cher Einbruch im sportlichen Leistungsprofil. Häusliche Blutdruckmessung und Urintest nicht durchgeführt.“ „Zeigen Sie mir die allgemeinen Daten.“ Auf einen Wink von Bell laufen lange Listen über die Präsentationsfläche. Blutwerte, Infor­ mationen zu Kalorienverbrauch und Stoffwech­ selabläufen, dazu einige Diagramme mit Leis­ tungskurven. „Die ist doch gut drauf “, sagt Sophie und gibt Rosentreter damit das Stichwort. „Keine Vorbelastungen. Erfolgreiche Biologin mit Idealbiographie. Keine Anzeichen von phy­ sischen oder sozialen Störungen.“ „Hat sie die ZPV in Anspruch genommen?“ „Bis jetzt liegt kein Antrag bei der Zentralen Partnerschaftsvermittlung vor.“ „Eine schwierige Phase. Nicht wahr, Jungs?“ Die Richterin lacht über Bells säuerliche und Rosen­ treters erschrockene Miene. „Ich würde in die­ sem Fall gern auf eine Verwarnung verzichten und Hilfestellung anbieten. Einladung zum Klä­ rungsgespräch.“ „Meinetwegen.“ Bell zuckt die Achseln. „Eine schwierige Phase.“ Lächelnd tippt Kramer auf seinem Display. „So kann man es auch aus­ drücken.“ „Kennen Sie die Beschuldigte?“, fragt Sophie freundlich. „Ich schätze die Zurückhaltung des Gerichts.“ Mit charmantem Spott zwinkert Kramer ihr zu. „Auch Sie sind der Beschuldigten schon einmal begegnet, Sophie. Wenn auch unter anderen Umständen.“ Sophie wird nachdenklich. Wäre ihr Teint nicht ohnehin von gesunder Farbe, könnten wir sie erröten sehen. Kramer packt seinen Kalender ein und steht auf. „Schon fertig?“, fragt Bell. „Im Gegenteil. Ganz am Anfang.“ Während Kramer zum Abschied winkt und den Raum verlässt, schließt Sophie die Akte und zieht eine neue heran. „Der Nächste, bitte.“ QUELLE: Zeh, Juli: Corpus Delicti. München: btb Verlag 2013, S. 13–22. Informieren Sie sich online über den Inhalt und die Hauptfiguren des Romans, z. B. unter https:// www.inhaltsangabe.de/zeh/corpus-delicti/ oder https://www.youtube.com/watch?v=VUIF2sS3ppE. Tipp Ó f72fz4 98 100 102 104 106 108 110 112 114 116 118 120 122 124 126 128 130 132 134 136 138 140 142 144 146 148 150 152 154 156 158 160 162 164 166 168 170 In der in Corpus Delicti beschriebenen Gesundheitsdiktatur wird Gesundheit zur Maxime erhoben. Krankheiten sollen durch Hygienegesetze, Forschung, Früherkennung und die totale Kontrolle der Bürgerinnen und Bürger verhindert werden. Ein implantierter Chip speichert die Körperwerte, die Menschen müssen ein Sportpensum absolvieren, Untersuchungspflichten einhalten, Schlaf- und Ernährungsberichte abliefern. Der Konsum von Kaffee, Zigaretten und Alkohol steht unter Strafe. Menschen leben in keimfreien Räumen, tragen Mundschutz und dürfen einander weder die Hand geben noch küssen. Welche staatlichen Restriktionen und Kontrollen würden Sie akzeptieren, um gesund zu bleiben? Diskutieren Sie darüber im Plenum. C A45  Reflexion Literatur Nur zu Prüfzwecken – Eige ntum des Verlags öbv

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