sprachreif HAK/HTL 4/5, Schulbuch

178 Juli Zeh (*1974): Corpus Delicti (2009) Mitten am Tag, in der Mitte des Jahrhunderts Rings um zusammengewachsene Städte bedeckt Wald die Hügelketten. Sendetürme zielen auf weiche Wolken, deren Bäuche schon lange nicht mehr grau sind vom schlechten Atem einer Zivi­ lisation, die einst glaubte, ihre Anwesenheit auf diesem Planeten vor allem durch den Ausstoß gewaltiger Schmutzmengen beweisen zu müs­ sen. Hier und da schaut das große Auge eines Sees, bewimpert von Schilfbewuchs, in den Himmel – stillgelegte Kies- und Kohlegruben, vor Jahrzehnten geflutet. Unweit der Seen beher­ bergen stillgelegte Fabriken Kulturzentren; ein Stück stillgelegter Autobahn gehört gemeinsam mit den Glockentürmen einiger stillgelegter Kir­ chen zu einem malerischen, wenn auch selten besuchten Freilichtmuseum. Hier stinkt nichts mehr. Hier wird nicht mehr gegraben, gerußt, aufgerissen und verbrannt; hier hat eine zur Ruhe gekommene Menschheit aufgehört, die Natur und damit sich selbst zu be­ kämpfen. Kleine Würfelhäuser mit weiß ver­ putzten Fassaden sprenkeln die Hänge, ballen sich zusammen und wachsen schließlich zu ter­ rassenförmig gestuften Wohnkomplexen an. Die Flachdächer bilden eine schier endlose Land­ schaft, dehnen sich bis zu den Horizonten und gleichen, das Himmelsblau spiegelnd, einem er­ starrten Ozean: Solarzellen, eng beieinander und in Millionenzahl. Von allen Seiten durchziehen Magnetbahn-Tras­ sen in schnurgeraden Schneisen den Wald. Dort, wo sie sich treffen, irgendwo inmitten des reflek­ tierenden Dächermeers, also mitten in der Stadt, mitten am Tag und in der Mitte des einund­ zwanzigsten Jahrhunderts – dort beginnt unsere Geschichte. Unter dem besonders lang gezogenen Flachdach des Amtsgerichts geht Justitia ihren Routinege­ schäften nach. Die Luft im Raum 20/09, in dem die Güteverhandlungen zu den Buchstaben F bis H stattfinden, ist auf exakt 19,5 Grad klimati­ siert, weil der Mensch bei dieser Temperatur am besten denken kann. Sophie kommt niemals ohne ihre Strickjacke zur Arbeit, die sie bei Strafgerichtsverhandlungen sogar unter der Robe trägt. Rechts von ihr liegt ein Aktenstapel, den sie bereits erledigt hat; linker Hand verbleibt ein kleinerer Haufen, den es noch zu bearbeiten gilt. Ihr blondes Haar hat die Richterin zu einem hochsitzenden Pferdeschwanz gebunden, mit dem sie immer noch aussieht wie jene eifrige Studentin in den Hörsälen der juristischen Fa­ kultät, die sie einmal gewesen ist. Sie kaut auf dem Bleistift, während sie auf die Projektions­ wand schaut. Als sie den Augen des öffentlichen Interessenvertreters begegnet, nimmt sie den Stift aus dem Mund. Sie hat mit Bell zusammen studiert, und er konnte schon vor acht Jahren in der Mensa nervtötende Vorträge über Rachen­ rauminfektionen halten, die durch den oralen Kontakt mit verkeimten Fremdkörpern ver­ ursacht werden. Als ob es in irgendeinem öffent­ lichen Raum im Land Keime gäbe! Bell sitzt ihr in einiger Entfernung gegenüber und nimmt mit seinen Unterlagen einen Groß­ teil der Tischplatte ein, während sich der Vertre­ ter des privaten Interesses an die kurze Seite des gemeinsamen Pults zurückgezogen hat. Um die allgemeine Übereinstimmung zu unterstreichen, teilen sich das öffentliche und das private Inter­ esse einen Tisch, was für beide Unterhändler ziemlich unbequem, aber nichtsdestoweniger eine schöne Rechtstradition ist. Wenn Bell den rechten Zeigefinger hebt, wechselt die Projektion an der Wand. Momentan zeigt sie das Bild eines jungen Mannes. „Bagatelldelikt“, sagt Sophie. „Oder gibt’s Vorbe­ lastungen? Vorstrafen?“ „Keine“, beeilt sich der Vertreter des privaten In­ teresses zu versichern. Rosentreter ist ein netter Junge. Wenn er in Verlegenheit gerät, fährt er sich mit einer Hand in die Frisur und versucht anschließend, die ausgerissenen Haare mög­ lichst unauffällig zu Boden schweben zu lassen. „Also einmaliges Überschreiten der Blutwerte im Bereich Koffein“, sagt Sophie. „Schriftliche Verwarnung, und das war’s. Einverstanden?“ „Unbedingt.“ Rosentreter wendet den Kopf, um den Vertreter des öffentlichen Interesses zu ta­ xieren. Dieser nickt. Sophie legt eine weitere Akte vom linken Stapel auf den rechten. […] „Also weiter.“ Bell hebt den Zeigefinger. „Mia Holl.“ Die Frau auf der Präsentationswand könnte ebenso gut vierzig wie zwanzig Jahre alt sein. 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 40 42 44 46 48 50 52 54 56 58 60 62 64 66 68 70 72 74 76 78 80 82 84 86 88 90 92 94 96 Reflexion Literatur 5  Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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