sprachreif HAK/HTL 4/5, Schulbuch

174 Leben im Netz Das große Nichts Eine Kolumne von Sibylle Berg | 24.03.2018 Das Netz ist toll. Es ist bequem. Bücher, Platten, unsere Daten – nichts gehört mehr uns. Und dem Hirn ging es auch schon mal besser. Was macht es eigentlich mit dem Gehirn der Menschen, wenn ihr Dasein zunehmend virtuell stattfindet? Was macht es jenseits von philoso­ phischen Aufsätzen, die keiner liest, und der Auswertung des Ocean-Persönlichkeitstests? Wie verändert sich das Offlinedasein, wenn die Musik in Clouds und Streamingdiensten stattfin­ det, die Filme, die Bücher, die Freunde, die Shops, das Sozialleben aus einer Benutzerober­ fläche bestehen, die vielleicht nicht real ist? Was passiert denn dann in der 1.0-Welt mit der Feuchtausstattung, die man durch den Winter tragen muss, in einer Menschengeschwindigkeit, die so langsam ist? ImNetz ist das Leben schnell. Irgendein Spacken kommentiert irgendwas – Trumps Haare, was irgendein Star, der auch nur online existiert, sagt oder tut. Irgendein gefälschtes Video von irgend­ was geht viral. Und – die Medien greifen es auf. Im Fernsehen, das man online sieht, in den On­ linezeitungen werden Twitter- und Facebook­ meldungen und -filme von irgendwelchen Honks oder Bots zitiert. Irgendjemand hat etwas gepostet. Na super. Vollkommen logisch, dass die Menschen Politik langweilig finden und lieber für abgehalfterte Reality Stars oder schlechte Komiker stimmen. Falls sie abstimmen. Denn in Ländern, wo das online passiert, sind es vielleicht Bots, die voten oder Malware aus China. Egal. Es ist alles egal geworden, weil es immer weniger gibt, das real stattfindet, das ein anderes Gefühl herstellt, außer Gereiztheit. Die Menschen schei­ nen einen Hass auf ihr Dasein zu entwickeln, wenn es außerhalb des Netzes stattfindet. De­ monstrationen zum Beispiel, oder in eine Partei einzutreten, Mahnwachen, Widerstand, all das Zeug ist unattraktiv, mühsam, außerhalb macht man nur noch Aktionen, wenn sie Gewalt und Hass beinhalten, damit sie imAnsatz ein Online­ gefühl erzeugen, oder man bleibt im Netz. Da kann man doch so großartig politisch arbeiten. In Troll-Fabriken aktiv werden, Videos oder Stimmen faken. Was macht es mit demMenschen, wenn das Ge­ hirn fragmentiert ist, die Aufmerksamkeitsspan­ ne nanosekundenlang, die Fähigkeit zum kreati­ ven Denken zerstört?Was machen 2,5Milliarden Dosen Ritalin mit dem Hirn, mit dem Gefühl – außer dass sie Depressionen fördern und auch hier wieder die Kreativität killen, weiß man noch nicht mehr. Außer dass die sechs Firmen, die das Medikament herstellen, ausgezeichnet verdient haben. Apropos. Seit jeder sich in irgendeiner Form äußert, Teil der Öffentlichkeit ist, Freunde findet, die vielleicht Bots sind, ist das Gefühl des Einzelnen, wichtig zu sein, in seltsame Größen­ ordnungen gestiegen. Jeder hat das Gefühl, die Welt kreise um ihn, sei­ ne Meinung ist wichtig, seine Bewertung kann Restaurants ruinieren, sein Kommentar demü­ tigt Politiker, seine Krankheit – die einmaligste, er hat das nachgesehen, der Mensch, er kann al­ les, der Mensch, er hat Tutorials gesehen, Klima­ wechsel – schon begriffen. Cern – alles klar, Ma­ genoperationen. Kann er selber. Komm mal her, Gertrud. Gertrud ist jetzt tot. Aber online lebt sie weiter. Second Life war der Probelauf. Jetzt sind wir alle im Second Life, hurra. Milliarden halten sich in einer neuen Welt auf, deren Grundfunktionen sie noch weniger durchschauen als die der soge­ nannten Realwelt aus Lava und Atmosphäre, sie wissen schon, das Ding da draußen. Milliarden haben keine Ahnung, wie ein Rechner funktio­ niert, Algorithmen, wie man manipulieren kann, was manipuliert wird, sie starren auf Pixel und vertrauen. Was ja eigentlich rührend ist. Der Einzelne hat die Relation seiner Bedeutung kom­ plett verloren, verloren das Gefühl, ein Wurm unter Milliarden zu sein. Das macht so wütend, so wütend, dass man im 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 40 42 44 46 48 50 52 54 56 58 60 62 64 66 68 70 72 74 76 78 80 82 Schreiben 5  Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verla s öbv

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