sprachreif HAK/HTL 4/5, Schulbuch

166 als Trittbrettfahrer unter – wie 1999 das Eu­ ro-Zeichen €, das nach langer Diskussion schließlich Unterschlupf beim E fand. Wozu brauchen wir das scharfe ß überhaupt? Dafür gibt es einen phonetischen Grund: In der deutschen Standardsprache zeigt das scharfe ß die Länge des Vokals an. Das a in „Straße“ wird lang gesprochen, jenes in „Gasse“ hingegen kurz. Für die Schweizer ist das hinfällig, denn sie beto­ nen alle Doppelkonsonanten mit einem Silben­ schnitt. Bei einem Eidgenossen klingt „Straße“ also mehr wie „Stras-se“. Bleibt natürlich die Fra­ ge, ob die Österreicher und die Deutschen nicht auch in der Lage wären, auf das scharfe ß zu ver­ zichten und „Strasse“ trotzdem richtig zu beto­ nen. Warum bekommen die Schweizer Extra­ würste? Erst seit gut 100 Jahren gibt es eine einheitliche deutsche Rechtschreibung. Davor gab sich jedes Land seine eigenen Regeln – und die Eidgenos­ sen stehen in dem Ruf, besonders auf ihre Eigen­ heiten zu pochen. Tatsächlich aber haben die Österreicher mit 14 Ausnahmewörtern doppelt so viele wie die Schweizer: „Mokka“ dürfen hei­ mische Kaffeehäuser auch mit cc schreiben, das österreichische „Tunell“ ist hierzulande genauso erlaubt wie das deutsche „Tunnel“, und aus­ schließlich im Österreichischen gibt es das Verb „maschinschreiben“. Die Schweizer hingegen be­ stehen – neben dem Verzicht auf das scharfe ß – auf „Müesli“ statt „Müsli“, „Bretzel“ statt „Brezel“ und „Rendez-vous“ anstelle von „Rendezvous“. Für den deutschen „Abiturienten“ haben die Schweizer den „Maturanden“, die Österreicher den „Maturanten“. „Keiser“ statt „Kaiser“: Wie kam es eigentlich zum deutschen Sprachkrieg? Im Gegensatz zur diesjährigen Minireform löste jene vor 21 Jahren einen veritablen Kulturkampf aus. Es sollte die größte Rechtschreibreform der Geschichte werden, doch schon die ersten Vor­ schläge des Instituts für Deutsche Sprache in Mannheim führten zu wütenden Protesten: „Bot“ statt „Boot“, „Keiser“ statt „Kaiser“? Was für eine Vergewaltigung der deutschen Sprache! Auch moderatere Ideen fanden wenig Anklang: „Delfin“ statt „Delphin“? „Schifffahrt“ statt „Schiffahrt“? „Wohl bekannt“ statt „wohlbe­ kannt“? Die meisten Deutschen sträubten sich hartnäckig gegen die 1996 eingeführte neue Or­ thografie. Lehrer weigerten sich, sie zu unter­ richten, Verlage und Medienhäuser, die bereits umgestellt hatten, ruderten zurück, allen voran die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“, fortan das Flaggschiff der orthografischen Gegenreforma­ tion. Wie schafftman Sprachfrieden? Der Konflikt um Groß- und Kleinschreibung, scharfes ß und Zusammenschreibung schwelte vor sich hin, bis er im Sommer 2004 erneut voll entbrannte: Ein Jahr vor Ende der Übergangsfrist verkündeten der Springer-Verlag, „Der Spiegel“ und die „Süddeutsche Zeitung“, zur alten Recht­ schreibung zurückkehren zu wollen. Literaten wie Günter Grass und Hans Magnus Enzensber­ ger reagierten panisch, Kritikerlegende Marcel Reich-Ranicki befürchtete eine „nationale Kata­ strophe“. „Der Sprachfrieden“ sei eiligst „wiederherzustel­ len“, befand daraufhin die deutsche Kultusminis­ terkonferenz und gründete den Rat für deutsche Rechtschreibung. 39 ehrenamtliche Linguisten, Lehrer und Autoren aus sechs Staaten sollten die umstrittensten Regeln entschärfen. Das Ergeb­ nis: „Kennenlernen“ darf seit 2006 wieder zu­ sammengeschrieben werden, „heiligsprechen“ ebenfalls, das „Du“ in Briefen wieder groß. Am 1. Jänner 2007 bekannte sich sogar die „FAZ“ zur neuen Rechtschreibung. Damit war der Sprach­ frieden besiegelt. Binnen-I & Gender_Gap: Warum haut nicht endlich jemand auf den Tisch? Nach aktuellem Beschluss des Rechtschreibrats sind alle „verkürzten Paarformen“ erlaubt: „SchülerInnen“, „Schüler/innen“, „Schüler_in­ nen“ oder auch „Schüler*innen“. Bei konservati­ ver Auslegung sei die Schreibweise „Schüler/-in­ nen“ zu wählen, empfiehlt das Gremium. Aber warum spricht es sich nicht deutlich für eine Schreibweise aus und beendet damit die hitzigen Diskussionen? „Wir befinden uns in einer Phase des Übergangs. Unsere Aufgabe ist es, die Ver­ wendungsweisen zu beobachten und schließlich die gebräuchlichsten zur Norm zu erheben“, sagt 78 80 82 84 86 88 90 92 94 96 98 100 102 104 106 108 110 112 114 116 118 120 122 124 126 128 130 132 134 136 138 140 142 144 146 148 150 152 154 156 158 160 162 164 166 168 170 172 Schreiben 5  Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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