sprachreif HAK/HTL 4/5, Schulbuch

141 lion geschätzt. Die Dunkelziffer ist gross, da see­ lische Krankheiten oft als Makel betrachtet wer­ den. Hinzu kommt, dass das Krankheitsbild neu und bis jetzt recht diffus ist. Es reicht von leicht unangepasstem Verhalten bis zu schweren Psy­ chosen. Gemeinsam ist den Betroffenen die mangelnde Fähigkeit, mit anderen Menschen normal zu interagieren. Achtzig Prozent der Hikikomori sind junge Männer über achtzehn […] und weisen ähnliche Verhaltensmerkmale auf: Apathie, Misstrauen, Angst, Kontaktschwierigkeiten. Wo kommen sie her? Und wieso treten sie gerade jetzt in Erschei­ nung? Schulverweigerer und Unangepasste gibt es auch in anderen modernen Gesellschaften, aber der massenhafte Rückzug in die vertrauten vier Wände des elterlichen Hauses scheint ein spezifisch japanisches Phänomen zu sein. Die seit Mitte des 19. Jahrhunderts mit Verve 1 betrie­ bene Modernisierung des Landes und die dar­ auffolgende Aufholjagd mit dem Westen war eine kollektive Anstrengung, die das Selbstver­ ständnis der japanischen Gesellschaft nachhaltig prägte. Der Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg geschah im gleichen Geist. Kollektivis­ mus war die herrschende Ideologie, die von dem Einzelnen verlangte, sich im Interesse des Ge­ meinwohls unterzuordnen, es ihm aber auch er­ laubte, sich einzuordnen, mit dem Strom zu schwimmen in der Gewissheit, voranzukommen und nichts falsch zu machen. Inzwischen sind die Grundlagen des steten gleichförmigen Aufstiegs zerbrochen. Die Dere­ gulierung des Arbeitsmarkts im Zuge der Globa­ lisierung und der lang anhaltenden Wirtschafts­ flaute seit Beginn der neunziger Jahre hat zu einem drastischen Rückgang dauerhafter Be­ schäftigungsverhältnisse geführt. Statt durch Wachstum und Konformitätsdruck ist das Leben durch Risiko und Konkurrenzdruck gekenn­ zeichnet, eine Entwicklung, die an der ideologi­ schen Front durch die Propagierung des Indivi­ dualismus als wertvoller Lebenshaltung noch verstärkt wird. Begleitet wurde diese Entwicklung von tiefgrei­ fendem demografischemWandel mit vielen Fol­ gen für die Gesellschaft. Seit Mitte des 20. Jahr­ hunderts ist die Lebenserwartung der Japaner um rund dreissig Jahre gestiegen. Gleichzeitig ist die Geburtenrate drastisch gefallen. Die meisten Kinder heute haben daher sowohl ältere Eltern als auch weniger Geschwister als ihre Eltern in ihrer Kindheit. Der soziale Mikrokosmos Fami­ lie hat eine andere Form angenommen. Um die Aufmerksamkeit der Eltern braucht kein Kind mehr zu wetteifern. Es braucht sich auch nicht unterzuordnen, hat es doch in der Regel höchs­ tens ein Geschwister. Alle Energie, alle Hoffnun­ gen und Erwartungen der Eltern konzentrieren sich auf die wenigen Kinder, deren Wünsche er­ füllt werden und die nicht lernen, einem Druck standzuhalten und sich durchzusetzen. Die Einzelkind-Familie ist auf dem Vormarsch. Das Einzelkind im Mittelpunkt der Familie bedeutet vor allem eins: Ungleichheit und asym­ metrische Kommunikation. Innerhalb der Fami­ lie interagieren diese Kinder mangels Geschwis­ tern ausschliesslich mit Erwachsenen. Von Angesicht zu Angesicht zu kommunizieren, fällt diesen Kindern oft schwer. Viele ziehen es vor, elektronisch vermittelt mit der Umwelt in Kon­ takt zu treten. Die mit der schrumpfenden Haushaltsgrösse einhergehende ideologische Neuorientierung Ja­ pans vom Kollektivismus zum Individualismus hat unerwartete und zum Teil unwillkommene Folgen. Der Erwartung, als Einzelner bestehen zu müssen, fühlen sich manche nicht gewachsen und ziehen sich aus der Gesellschaft zurück. An­ dere begegnen dieser Erwartung mit extremen Formen des Auslebens individueller Vorlieben. Ob sie Sendboten einer „Gesellschaft der Unge­ bundenen“ sind, muss sich noch zeigen, aber dass die Hikikomori Produkt einer einschnei­ denden sozialen Umwälzung sind, ist unüber­ sehbar. QUELLE: https://www.nzz.ch/die_unfaehigkeit_allein_zu_bestehen-1.520360 ; (gekürzt; abgerufen am 12.06.2017; der Text folgt der Schweizer Rechtschreibung) 1 Schwung, Begeisterung 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 40 42 44 46 48 50 52 54 56 58 60 62 64 66 68 70 72 74 76 78 80 82 84 86 88 90 92 Nur zu Prüfzwecken – E igentum des Verlags öbv

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