sprachreif HAK/HTL 4/5, Schulbuch

101 Elfriede Jelineks Werke sind für eine sehr deutliche, provokante, obszöne Sprache und teilweise verstörende und beeindruckende Szenen bekannt. Themen in Jelineks Werken sind unter anderem der Nationalsozialismus, die kritische Auseinandersetzung mit dem Heimatbegriff, Kritik am Kapitalis- mus und an patriarchalischen Strukturen sowie Sexualität. Eines ihrer bekanntesten Werke ist Die Klavierspielerin , erschienen 1983. Lesen Sie unter dem Link https://kurier.at/kultur/die-klavierspielerin-von-elfriede-jelinek/714.943 eine Rezension zu dem Buch und begründen Sie im Anschluss daran, ob Sie dieses Werk lesen würden. Lesen Sie den Beginn von Elfriede Jelineks Roman Die Klavierspielerin (1983). Bilden Sie Gruppen und fassen Sie in Stichpunkten zusammen, was Sie über die Mutter-Tochter-Beziehung und die Lebens- situation der beiden Frauen erfahren. Vergleichen Sie Ihre Ergebnisse mit jenen einer anderen Gruppe. Elfriede Jelinek (*1946): Die Klavierspielerin (1983) Die Klavierlehrerin Erika Kohut stürzt wie ein Wirbelsturm in die Wohnung, die sie mit ihrer Mutter teilt. Die Mutter nennt Erika gern ihren kleinen Wirbelwind, denn das Kind bewegt sich manchmal extrem geschwind. Es trachtet da- nach, der Mutter zu entkommen. Erika geht auf das Ende der Dreißig zu. Die Mutter könnte, was ihr Alter betrifft, leicht Erikas Großmutter sein. Nach vielen harten Ehejahren erst kam Erika da- mals auf die Welt. Sofort gab der Vater den Stab an seine Tochter weiter und trat ab. Erika trat auf, der Vater ab. Heute ist Erika flink durch Not geworden. Einem Schwarm herbstlicher Blätter gleich, schießt sie durch die Wohnungstür und bemüht sich, in ihr Zimmer zu gelangen, ohne gesehen zu werden. Doch da steht schon die Mama groß davor und stellt Erika. Zur Rede und an die Wand, Inquisitor und Erschießungskom- mando in einer Person, in Staat und Familie ein- stimmig als Mutter anerkannt. Die Mutter forscht, weshalb Erika erst jetzt, so spät, nach Hause finde? Der letzte Schüler ist bereits vor drei Stunden heimgegangen, von Erika mit Hohn überhäuft. Du glaubst wohl, ich erfahre nicht, wo du gewesen bist, Erika. Ein Kind steht seiner Mutter unaufgefordert Antwort, die ihm jedoch nicht geglaubt wird, weil das Kind gern lügt. Die Mutter wartet noch, aber nur so lange, bis sie eins zwei drei gezählt hat. Schon bei zwei meldet sich die Tochter mit einer von der Wahrheit stark abweichenden Antwort. Die notenerfüllte Aktentasche wird ihr nun ent- rissen, und gleich schaut der Mutter die bittere Antwort auf alle Fragen daraus entgegen. Vier Bände Beethovensonaten teilen sich indigniert den kargen Raum mit einem neuen Kleid, dem man ansieht, daß es eben erst gekauft worden ist. Die Mutter wütet sogleich gegen das Gewand. Im Geschäft, vorhin noch, hat das Kleid, durch- bohrt von seinem Haken, so verlockend ausge- sehen, bunt und geschmeidig, jetzt liegt es als schlaffer Lappen da und wird von den Blicken der Mutter durchbohrt. Das Kleidergeld war für die Sparkasse bestimmt! Jetzt ist es vorzeitig ver- braucht. Man hätte dieses Kleid jederzeit in Ge- stalt eines Eintrags ins Sparbuch der Bauspar- kassen der österr. Sparkassen vor Augen haben können, scheute man den Weg zumWäschekas- ten nicht, wo das Sparbuch hinter einem Stapel Leintücher hervorlugt. Heute hat es aber einen Ausflug gemacht, eine Abhebung wurde getätigt, das Resultat sieht man jetzt: jedesmal müßte Er- ika dieses Kleid anziehen, wenn man wissen will, wo das schöne Geld verblieben ist. Es schreit die Mutter: Du hast dir damit späteren Lohn ver- scherzt! Später hätten wir eine neue Wohnung gehabt, doch da du nicht warten konntest, hast du jetzt nur einen Fetzen, der bald unmodern sein wird. Die Mutter will alles später. Nichts will sie sofort. Doch das Kind will sie immer, und sie will immer wissen, wo man das Kind notfalls erreichen kann, wenn der Mama ein Herzinfarkt droht. Die Mutter will in der Zeit sparen, um später genießen zu können. Und da kauft Erika sich ausgerechnet ein Kleid!, beinahe noch vergänglicher als ein Tupfer Mayonnaise auf einem Fischbrötchen. Dieses Kleid wird nicht schon nächstes Jahr, sondern bereits A46  Ó 8f8x4t A47  C 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 40 42 44 46 48 50 52 54 56 58 60 62 64 66 68 Reflexion Literatur Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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