sprachreif HAK/HTL 4/5, Schulbuch
100 […] WELT ONLINE: Der Titel „Wunschloses Un- glück“ ist ein geflügeltes Wort geworden. Handke: Der ist gar nicht von mir. Der Abdruck im „Merkur“ hieß noch, frei nach Kant: „Interes- seloser Überdruss“. Ich fand das ein bisschen verzopft. Den Rhythmus wollte ich beibehalten und habe demVerlag einige Vorschläge gemacht. Ich glaube aber, „Wunschloses Unglück“ war eine Erfindung der Lektorin bei Residenz, Gertrud Frank. Im Englischen wurde dann daraus, man kann’s eigentlich nicht übersetzen, „A Sorrow Beyond Dreams“ – Kummer jenseits der Träu- me. WELT ONLINE: War Wunschlosigkeit das Un- glück Ihrer Mutter? Dass man ihr es ausgetrieben hat, überhaupt noch etwas zu wünschen? Handke: Ich glaube nicht einmal, dass sie wunschlos war. Im Grunde stimmt der Titel nicht, wie viele meiner Titel. Zum Beispiel „Die Angst des Tormanns beim Elfmeter“. Der Tor- mann hat gar keine Angst, er ist der, der am Schluss keine hat. Meine Mutter hatte bis zum Ende Wünsche. Sie hat sich immer noch einen anderen Mann gewünscht, einen, der „ein Kava- lier“ ist. Ich weiß gar nicht, was sie damit gemeint hat. Es ist oft ein Widerspruch zwischen Ge- schichte und Titel, der nicht Lüge sein muss. WELT ONLINE: Hat Ihre Mutter nicht auch große Literatur mit Ihnen gelesen? Handke: Ja, und sie hat dabei alles radikal auf sich bezogen, das war schön und zugleich ge- fährlich für sie. Ich habe vielleicht auch einmal so gelesen wie meine Mutter: Jedes Buch als Struktur einer möglichen Autobiografie von sich selber. Mit Kafka wollte sie sich nicht identifizie- ren. Das kenne ich, kenne ich von meinen Äm- tern, sagte sie. Sie wollte nicht etwas lesen, wo sie zu sehr vorkam. Dostojewski hat wahrscheinlich am meisten ihrer Seele entsprochen, ihrer ge- quälten und doch sehr liebenden und sehr viel- fältigen Seele, die auf Erlösung aus war. Sie war erlösungsbedürftig. Obwohl sie nicht religiös war, sogar eher antireligiös gegen Ende ihres Le- bens, vielmehr antiklerikal.[…] WELT ONLINE: Der Schlusssatz von „Wunschloses Unglück“ ist inzwischen längst berühmt geworden: „Später werde ich über das alles Genaueres schreiben.“ Handke: Das ist auch ein Blödsinn. Das Wort „genau“ ist schon falsch. „Mit mehr Einzel heiten“ wollte ich sagen. Ich habe dann später versucht, wie Thomas Wolfe, eine Art Epos der Familie zu erträumen: im Roman „Die Wieder- holung“. An die Mutter habe ich mich nicht mehr so recht herangewagt. WELT ONLINE: In Salzburg haben Sie mehrere Jahre gelebt, in Berlin, in und bei Paris. Gibt es in Ihrem Gefühlshaushalt so etwas wie den Begriff Heimat? Oder fühlen Sie sich am ehesten imRei- sen, imWandern zuhause? Handke: Einfache Fragen sind immer schwer zu beantworten. Ich weiß, dass ich eine Pflicht habe: Die ganze Welt sollte Heimat sein. Deswegen gibt es ja auch das Wort „Weltbürger“. Aber es gelingt mir nicht. Für mich sind alle Orte Flüch- tigkeiten. Irgendwann merkt man, dass man nir- gendwo wurzelt, die Orte keine Dauer haben. Außer Sprache vielleicht. Wenn ich am Schreib- tisch sitze, das mache ich wirklich nicht jeden Tag, es ist eher die Ausnahme, dann denke ich: Das ist Heimat jetzt, ja – eine ephemere 1 Heimat, die Arbeit, Tun – „tun“ ist schöner gesagt als „ar- beiten“? QUELLE: https://www.welt.de/kultur/article5110963/AlsPeterHandkedenSelbstmordderMuttererlebte.html; (abgerufen am 30.04.2017) 1 ephemer: flüchtig, schnell vorübergehend 26 28 30 32 34 36 38 40 42 44 46 48 50 52 54 56 58 60 62 64 66 68 70 72 74 76 78 80 82 84 86 88 90 92 94 96 98 Hören Sie den Ausschnitt von Peter Handkes Erzählung Wunschloses Unglück (1972) unter https://oe1. orf.at/artikel/659677/Peter-Handke-Wunschloses-Unglueck, ab Minute 02:55. Fassen Sie die Lebensbe- dingungen der Mutter zusammen. Machen Sie sich während des Hörens Notizen. Diskutieren Sie im Plenum, warum Autorinnen und Autoren – wie Handke – tragische persönliche Ereignisse in einem Buch verarbeiten. Was spricht dafür, was dagegen? A44 Ó t5vu98 A45 C Reflexion Literatur 3 N ur zu Prüfzwecken – E igentum des Verla s öbv
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