sprachreif HAK/HTL 3, Schulbuch
195 Front des Informationskrieges kein Halten mehr. Zeitgenössische Irrtümer wie vom deutschen Fernsehen falsch verwendete Bilder in der Uk- raine-Krise oder Manipulationsversuche im Zu- sammenhang mit Assads Giftgaseinsätzen sind nur ein Echo dessen, was man im Irak-Krieg er- leben konnte. Die Demokratie zahlt den Preis für die neue Unkultur der Propaganda in Form einer zunehmenden außenpolitischen Apathie seiner Bürger. Die Klage der bekannten Kommunikationswis- senschaftlerin Elisabeth Noelle-Neumann aus den 1990er Jahren über die fehlenden internatio- nalen Debatten in Deutschland darf man heute getrost wiederholen. Es muss schon ein gewalti- ges Ereignis wie der Arabische Frühling kom- men, um uns ernsthaft über die außereuropäi- sche Welt nachdenken und debattieren zu lassen. Ein „einfacher“ Bürgerkrieg wie in Syrien reicht da nicht mehr aus. Sind wir abgestumpft? Unwissen lässt uns abstumpfen Es wäre sicher zu einfach, die Ursachen für die Stagnation der Kriegsberichterstattung nur bei der Politik zu suchen. Der französische Philo- soph Jacques Ellul stellte bereits vor einem hal- ben Jahrhundert fest: Propaganda – das sind wir alle. Die moderne Forschung ist sich einig, dass viele Menschen in Zeiten der Verunsicherung zu Lämmern werden, die dem Leithammel in der eigenen Regierung hinterherlaufen. Als Rally- round-the-flag-Phänomen, als das „Scharen hin- ter der Flagge“, bezeichnet die Wissenschaft die Tendenz von Bevölkerungen überall auf der Welt, in Krisenzeiten ihrer eigenen Staatsfüh- rung recht unkritisch gegenüberzustehen und sich notfalls auch belügen zu lassen – Hauptsa- che Führung. Dass der Unterschied zwischen Wahrheit und Lüge zu bestimmten Zeiten fast gleichgültig zu sein scheint, hat allerdings auch etwas damit zu tun, dass selbst faktisch richtige Information eben noch lange keinWissen sind. UmKriegsur- sachen und -verläufe zu verstehen, müssenMen- schen Hintergründe und Zusammenhänge ken- nen. Globales Wissen schreitet aber in den Lehrplänen von Wissenschaft und Schulen nur langsam voran. Die Auslandsberichterstattung der Medien ist außerhalb akuter Krisenzeiten ein Schrumpfgewerbe, das die Medienwissenschaft- lerin Miriam Meckel einmal zu Recht als „Rest- größe“ bezeichnet hat. In Zeiten der Globalisie- rung nimmt das Interesse an der Welt keineswegs generell zu. Viele Statistiken beweisen das ge- naue Gegenteil. Wen wundert es da, dass Kultur- räume und -konzepte wie „die Araber“, „Afrika“ und „der Islam“ von vielen eher als angstbesetzte Schimpfwörter betrachtet werden und dass mehr als die Hälfte der Deutschen den Islam ablehnt. Die meisten wissen ja nicht einmal, dass Jesus ein Prophet des Islams war. Unwissen ist ein Teufelskreis Unwissen ist keine Mentalität, es ist ein Prozess und allzu oft ein Teufelskreis. Weil der Konsu- ment oft wenig weiß, will er auch gar nicht mehr wissen, er kann zusätzliche Informationen nicht einordnen – und schaltet ab. Unwissen demoti- viert, es ermüdet und lässt uns abstumpfen. Als ich einem bekannten deutschen Intendanten einmal vorschlug, eine internationale Talkshow nach dem Vorbild der BBC ins Leben zu rufen, antwortete er: „Das interessiert in Deutschland doch keinen.“ Zwar gibt es bis heute keine Re- zeptionsforschung 1 , die seine These belegt. Den- noch könnte der Mann leider recht gehabt ha- ben. Die Einschaltquoten und Sendezeiten der wenigen internationalenMagazinsendungen des deutschen Fernsehens (wie Weltspiegel, Aus- landsjournal) sind langfristig eher geschrumpft. Dabei ist das, was im englischsprachigen Raum als compassion fatigue, als Mitleidsmüdigkeit, bezeichnet wird, letztlich ein Mythos. Studien der renommierten London School of Economics and Political Science haben verdeutlicht, dass unser Interesse am fernen Leiden der anderen nur dort schwindet, wo wir nicht umfassend ge- nug aufgeklärt werden. Der Flüchtlingssommer von 2015, als in Deutschland einige Monate lang eine Allianz aus Politik, Medien und Bevölke- rung eine unglaubliche humanitäre Kraftan- strengung positiv bewältigte, kann hier als Bei- spiel gelten. Es liegt also durchaus nicht in der Natur des Menschen, Leid tatenlos zur Kenntnis zu nehmen. Werden Bürgern die internationalen Zusammenhänge von Krieg und Flucht verdeut- licht und wird ihnen eine konkrete Handlungs- option aufgezeigt, sind sie zu erstaunlicher glo- baler Solidarität in der Lage. Hier nun eröffnen sich mitten in der Stagnation 84 86 88 90 92 94 96 98 100 102 104 106 108 110 112 114 116 118 120 122 124 126 128 130 132 134 136 138 140 142 144 146 148 150 152 154 156 158 160 162 164 166 168 170 172 174 176 178 180 Reflexion Medien Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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