sprachreif HAK/HTL 3, Schulbuch
183 bedienen. Diesen Schrein, lieber Leser, findest Du in meinem Stüb- chen nicht, und ich wäre glücklich, wenn Du Dich der Ansicht zu- wenden möchtest, dass in jene Ecke Deines Stübchens ein Klavier oder ein kleiner Bücherkasten besser hineinpasste als jenes Möbel, das Du nur darum erträglich findest, weil Du von Jugend an daran gewöhnt worden bist. – Es liegt mir ferne, aus meiner internationa- len Gesinnung ein Geheimnis zu machen. Wie nahe mir ein Mensch oder eine menschliche Organisation steht, hängt nur davon ab, wie ich deren Wollen und Können beurteile. Der Staat, dem ich als Bür- ger angehöre, spielt in meinem Gemütsleben nicht die geringste Rolle; ich betrachte die Zugehörigkeit zu einem Staate als eine ge- schäftliche Angelegenheit, wie etwa die Beziehung zu einer Lebens- versicherung. Wie soll aber das ohnmächtige Einzelgeschöpf zur Erreichung dieses Zieles beitragen? Soll etwa jeder einen beträchtlichen Teil seiner Kräfte der Politik widmen? Ich denke wirklich, dass die geistig reiferen Menschen Europas sich durch Vernachlässigung der allgemeinen politischen Fragen versündigt haben; aber ich sehe in der Pflege der Politik nicht die wichtigste Wirksamkeit des Einzelnen in dieser Angelegenheit. Ich glaube vielmehr, jeder Einzelne sollte in dem Sinne persönlich wirken, dass jene Gefüh- le, von denen ich vorhin sprach, nach Möglichkeit in solche Bah- nen gelenkt werden, dass sie nicht mehr der Allgemeinheit zum Fluche gereichen können. Jeder Mensch sollte sich ohne Rücksicht auf Worte und Taten an- derer im Vollbesitz seiner Ehre fühlen, wenn er das Bewusstsein hat, nach bestemWissen und Können zu handeln; Verletzung der Ehre, sei es der eigenen Person, sei es einer Gesamtheit, der man angehört, durch Worte und Taten anderer bzw. anderer Gesamt- heiten gibt es nicht. Macht und Habgier sollen wie in früheren Zeiten als verächtliche Laster behandelt werden, ebenso der Hass und die Streitsucht. Sowenig ich an der Überschätzung des Ver- gangenen leide, in diesem wichtigen Punkte sind wir leider nach meiner Ansicht nicht vorwärtsgekommen, sondern zurückgesun- ken. Jeder Wohlwollende sollte daran arbeiten, dass bei ihm selbst und in seiner persönlichen Umgebung in dieser Beziehung gebes- sert werde. Dann werden auch die schweren Plagen verschwin- den, wie sie uns heute in so furchtbarer Weise heimsuchen. QUELLE: http://www.zeit.de/2014/10/albert-einstein-meine-meinung-ueber-den-krieg ; (abgerufen am 29.03.2016) 60 62 64 66 68 70 72 74 76 78 80 82 84 86 88 90 92 94 96 Verbunden mit der sehr subjekti- ven Argumentation steht oft ein Appell , der eindringlich zum Handeln auffordert. Überlegen Sie, weshalb die kursiv gedruckte Stelle des Textes auf Einwand des Goethebundes gestrichen wurde. Nehmen Sie zu der Frage Stellung, ob dieser Essay auch im 21. Jahrhundert noch in dieser Form erscheinen könnte. Begründen Sie, ob und welche Änderungen Sie machen würden. A8 B A9 B Lesen Nur zu Prüfzwecken – Eigen tum des Verlags öbv
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