sprachreif HAK/HTL 3, Schulbuch

182 Der überwiegende Teil des Essays ist stark subjektiv gehalten und wirkt, als ob der Verfasser (die Verfasserin) laut denken würde. Zur anfänglichen Behauptung wird eine Vermutung gestellt, die im Verlauf des Textes erörtert wird. Die persönliche Ebene wird durch das Personalpronomen „ich“ betont. Diese aggressive Tendenz macht sich überall geltend, wo einzelne Männer nebeneinander gestellt sind, noch viel mehr aber dann, wenn verhältnismäßig eng geschlossene Gesellschaften miteinan- der zu tun haben. Diese geraten miteinander fast unfehlbar in Streitigkeiten, die in Zank und gegenseitigen Mord ausarten, wenn nicht besondere Vorkehrungen getroffen sind, um solche Vorkommnisse zu verhüten. Ich werde nie vergessen, welch ehrlichen Hass meine gleichaltri- gen Schulgenossen gegen die Abc-Schützen einer in einer be- nachbarten Straße gelegenen Schule Jahre hindurch empfanden. Unzählige Raufereien fanden statt, bei denen es manches Loch in den Köpfen der Knirpse absetzte. Wer möchte zweifeln, dass Blut­ rache und Duellwesen diesem Gefühl entstammen? Ich meine sogar, dass die bei uns so sorgfältig gepflegte Ehre von ihm ihre Hauptnahrung erhält. Die neueren staatlichen Organisationen haben begreiflicherweise die Äußerungen der primitiven virilen Eigenart stark in den Hin- tergrund drängen müssen. Aber wo zwei Staatengebilde neben- einander liegen, die nicht einer übermächtigen Organisation an- gehören, schafft jenes Gefühl von Zeit zu Zeit in den Gemütern jene ungeheure Spannung, die zu den Kriegskatastrophen führt. Dabei halte ich die sogenannten Ziele und Ursachen der Kriege für ziemlich belanglos; sie finden sich stets, wenn die Leidenschaft ihrer bedarf. Die feinen Geister aller Zeiten waren darüber einig, dass der Krieg zu den ärgsten Feinden der menschlichen Entwicklung ge- hört, dass alles zu seiner Verhütung getan werden müsse. Ich bin auch trotz der unsagbar traurigen Verhältnisse der Gegenwart der Überzeugung, dass eine staatliche Organisation in Europa, welche europäische Kriege ebenso ausschließen wird wie jetzt das Deut- sche Reich einen Krieg zwischen Bayern und Württemberg, in nicht allzu ferner Zeit sich erreichen lassen wird. Kein Freund der geistigen Entwicklung sollte es versäumen, für dieses wichtigste politische Ziel der Gegenwart einzustehen. Man kann sich die Frage vorlegen: Wieso verliert der Mensch in Friedenszeiten, während welcher die staatliche Gemeinschaft fast jede Äußerung viriler Rauflust unterdrückt, nicht die Eigenschaften und Triebfedern, welche ihn während des Krieges zumMassenmord befähigen? Damit scheint es sich mir so zu verhalten. Wenn ich in ein gutes normales Bürgergemüt hineinsehe, erblicke ich einen mä- ßig erhellten, gemütlichen Raum. In einer Ecke desselben steht ein wohlgepflegter Schrein, auf den der Hausherr sehr stolz ist und auf den jeder Beschauer sogleich mit lauter Stimme hingewiesen wird; darauf steht mit großen Lettern das Wort „Patriotismus“ geschrie- ben. Diesen Schrank zu öffnen ist aber für gewöhnlich verpönt. Ja der Hausherr weiß kaum oder gar nicht, dass sein Schrank die mo- ralischen Requisiten des tierischen Hasses und Massenmordes birgt, die er dann im Kriegsfalle gehorsam herausnimmt, um sich ihrer zu 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 40 42 44 46 48 50 52 54 56 58 Lesen 6  Nur zu Pr fzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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