sprachreif HAK/HTL 3, Schulbuch

163 den.“ – Wie zu einer Sklavin spricht er. Ich spu- cke ihm ins Gesicht. – „Sie sollen mir nicht gleich antworten, Else. Überlegen Sie. Nach dem Diner werden Sie mir gütigst Ihre Entscheidung kund- tun.“ – Warum sagt er denn „kundtun“. Was für ein blödes Wort: kundtun. – „Überlegen Sie in aller Ruhe. Sie werden vielleicht spüren, dass es nicht einfach ein Handel ist, den ich Ihnen vor- schlage.“ – Was denn, du klingender Schuft! – „Sie werden möglicherweise ahnen, dass ein Mann zu Ihnen spricht, der ziemlich einsam und nicht besonders glücklich ist und der vielleicht ei- nige Nachsicht verdient.“ – Affektierter Schuft. Spricht wie ein schlechter Schauspieler. Seine gepflegten Finger sehen aus wie Krallen. Nein, nein, ich will nicht. Warum sag’ ich es denn nicht. Bring’ dich um, Papa! Was will er denn mit meiner Hand? Ganz schlaff ist mein Arm. Er führt meine Hand an seine Lippen. Heiße Lip- pen. Pfui! Meine Hand ist kalt. Ich hätte Lust, ihm den Hut herunter zu blasen. Ha, wie ko- misch wär’ das. Bald ausgeküsst, du Schuft? – […] „Also auf Wiedersehen, Else.“ – Ich antworte nichts. Regungslos stehe ich da. Er sieht mir ins Auge. Mein Gesicht ist undurchdringlich. Er weiß gar nichts. Er weiß nicht, ob ich kommen werde oder nicht. Ich weiß es auch nicht. Ich weiß nur, dass alles aus ist. Ich bin halbtot. Da geht er. Ein wenig gebückt. Schuft! Er fühlt mei- nen Blick auf seinem Nacken. Wen grüßt er denn? Zwei Damen. Als wäre er ein Graf, so grüßt er. Paul soll ihn fordern und ihn totschie- ßen. Oder Rudi. Was glaubt er denn eigentlich? Unverschämter Kerl! Nie und nimmer. Es wird dir nichts anderes übrig bleiben, Papa, du musst dich umbringen. – Die Zwei kommen offenbar von einer Tour. Beide hübsch, er und sie. Haben sie noch Zeit, sich vor dem Diner umzukleiden? Sind gewiss auf der Hochzeitsreise oder viel- leicht gar nicht verheiratet. Ich werde nie auf ei- ner Hochzeitsreise sein. Dreißigtausend Gulden. Nein, nein, nein! Gibt es keine dreißigtausend Gulden auf der Welt? Ich fahre zu Fiala. Ich komme noch zurecht. Gnade, Gnade, Herr Dok- tor Fiala. Mit Vergnügen, mein Fräulein. Bemü- hen Sie sich in mein Schlafzimmer. – Tu mir doch den Gefallen, Paul, verlange dreißigtau- send Gulden von deinem Vater. Sage, du hast Spielschulden, du musst dich sonst erschießen. Gern, liebe Kusine. Ich habe Zimmer Nummer soundsoviel, um Mitternacht erwarte ich dich. O, Herr von Dorsday, wie bescheiden sind Sie. Vorläufig. Jetzt kleidet er sich um. Smoking. Also entscheiden wir uns. Wiese im Monden- schein oder Zimmer Nummer fünfundsechzig? Wird er mich im Smoking in den Wald beglei- ten? […] QUELLE: Arthur Schnitzler: Fräulein Else. Herausgegeben von Johannes Pankau. Stuttgart: Philipp Reclam jun., 2002, S. 34 ff. (Rechtschreibung adaptiert) Else erfüllt den Wunsch Dorsdays letztendlich, zeigt sich aber nicht wie gewünscht nur ihm alleine nackt, sondern der gesamten vor dem Abendessen im Musiksalon des Hotels versammelten Gesell- schaft. Danach fällt sie in eine für sie erlösend wirkende Scheinohnmacht, wenig später begeht sie auf ihrem Zimmer mit dem eigens dafür bereits hergerichteten Schlafmittel Veronal (nur in ihren Träumen?) Selbstmord. Ist Elses Dilemma noch zeitgemäß bzw. wie könnte es, übertragen auf unser Zeitalter, aussehen, also, worin könnte ein ähnliches Dilemma einer jungen Frau im 21. Jahrhundert bestehen? Denken Sie auch an Situationen in anderen Ländern, in Bezug auf verschiedene Traditionen, Religionen etc. Besprechen Sie dies sowie Ihre mögliche(n) Vorgehensweise(n) mit Ihrer Partnerin bzw. Ihrem Partner und notieren Sie Ihre Ergebnisse auf einem Blatt Papier. Besprechen Sie anschließend Ihre Meinungen gemeinsam mit Ihrer Lehrkraft. Überlegen Sie in der Klasse, welche Situationen für Sie oder andere Menschen Dilemmata darstellen. Bedenken Sie: Auch die Wahl zwischen zwei positiven Dingen kann ein Dilemma darstellen. A21  B C A22  C A23  58 60 62 64 66 68 70 72 74 76 78 80 82 84 86 88 90 92 94 96 98 100 102 104 106 108 110 112 Schreiben Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

RkJQdWJsaXNoZXIy ODE3MDE=