sprachreif HAK/HTL 3, Schulbuch
162 Infobox: Fräulein Else Die junge Wienerin Else, die sich auf Sommerfrische in Südtirol befindet, soll einen dort anwesenden Freund ihres Vaters um ein Darlehen bitten, da ihre Familie sich in finanziellen Schwierigkeiten befindet. Dorsday, der ein reicher Kunsthändler ist, willigt ein – aber nur, wenn er als Gegenleistung Else nackt sehen darf. Else befindet sich nun in einem scheinbar unlösbaren Dilemma zwischen weiblicher Selbstbestimmung und der Loyalität ihrer Familie gegenüber. Arthur Schnitzler: Fräulein Else […] „Wenn Sie wirklich einmal eine Million brau- chen sollten, Else, – ich bin zwar kein reicher Mann, dann wollen wir sehen. Aber für diesmal will ich genügsam sein, wie Sie. Und für diesmal will ich nichts anderes, Else, als – Sie sehen.“ – Ist er verrückt? Er sieht mich doch. – Ah, so meint er das, so! Warum schlage ich ihm nicht ins Ge- sicht, dem Schuften! Bin ich rot geworden oder blass? Nackt willst du mich sehen? Das möchte mancher. Ich bin schön, wenn ich nackt bin. Wa- rum schlage ich ihm nicht ins Gesicht? Riesen- groß ist sein Gesicht. Warum so nah, du Schuft? Ich will deinen Atem nicht auf meinen Wangen. Warum lasse ich ihn nicht einfach stehen? Bannt mich sein Blick? Wir schauen uns ins Auge wie Todfeinde. Ich möchte ihm Schuft sagen, aber ich kann nicht. Oder will ich nicht? – „Sie sehen mich an, Else, als wenn ich verrückt wäre. Ich bin es vielleicht ein wenig, denn es geht ein Zauber von Ihnen aus Else, den Sie selbst wohl nicht ah- nen. Sie müssen fühlen, Else, dass meine Bitte kei- ne Beleidigung bedeutet. Ja, ‚Bitte’ sage ich, wenn sie auch einer Erpressung zum Verzweifeln ähn- lich sieht. Aber ich bin kein Erpresser, ich bin nur ein Mensch, der mancherlei Erfahrungen gemacht hat, – unter andern die, dass alles auf der Welt seinen Preis hat und dass einer, der sein Geld ver- schenkt, wenn er in der Lage ist, einen Gegenwert dafür zu bekommen, ein ausgemachter Narr ist. Und – was ich mir diesmal kaufen will, Else, so viel es auch ist, Sie werden nicht ärmer dadurch, dass Sie es verkaufen. Und dass es ein Geheimnis bleiben würde zwischen Ihnen und mir, das schwöre ich Ihnen, Else, bei – bei all den Reizen, durch deren Enthüllung Sie mich beglücken wür- den.“ – Wo hat er so reden gelernt? Es klingt wie aus einem Buch. – „Und ich schwöre Ihnen auch, dass ich – von der Situation keinen Gebrauch ma- chen werde, der in unserem Vertrag nicht vorgese- hen war. Nichts anderes verlange ich von Ihnen, als eine Viertelstunde dastehen dürfen in Andacht vor Ihrer Schönheit. Mein Zimmer liegt im glei- chen Stockwerk wie das Ihre, Else, Nummer fünf- undsechzig, leicht zu merken. Der schwedische Tennisspieler, von dem Sie heut’ sprachen, war doch gerade fünfundsechzig Jahre alt?“ – Er ist verrückt! Warum lasse ich ihn weiterreden? Ich bin gelähmt. – „Aber wenn es Ihnen aus irgend- einem Grunde nicht passt, mich auf Zimmer Nummer fünfundsechzig zu besuchen, Else, so schlage ich Ihnen einen kleinen Spaziergang nach dem Diner vor. Es gibt eine Lichtung im Walde, ich habe sie neulich ganz zufällig entdeckt, kaum fünf Minuten weit von unserem Hotel. – Es wird eine wundervolle Sommernacht heute, beinahe warm, und das Sternenlicht wird Sie herrlich klei- 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 40 42 44 46 48 50 52 54 56 Merkenswert: Der innere Monolog Diese Erzähltechnik eignet sich besonders zum Vermitteln von Gefühlen und Gedanken einer Figur . Durch Halbsätze, unvollständige Sätze, Wiederholungen, Ellipsen, Gefühlsbeschreibungen etc. können wir als Leserinnen und Leser uns in die Figur hineinversetzen und leben mit ihr im Geschehen mit, sind ihr also ganz nahe. Weitere innere Monologe: Leutnant Gustl (Arthur Schnitzler, 1900), Auf der Suche nach der verlorenen Zeit (Marcel Proust, 1913–1927), Ulysses (James Joyce, 1922), Berlin Alexanderplatz (Alfred Döblin, 1924) oder auch bei Virginia Woolf etc. Schreiben 5 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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