sprachreif HAK/HTL 3, Schulbuch

132 Die erste Welle, das war die Weiße Garde 2 während der Revolu- tion und im Bürgerkrieg; die zweite Welle emigrierte zwischen 1941 und 1945; die dritte bestand aus ausgebürgerten Dissidenten ab den Sechzigerjahren; und die vierte Welle begann mit den über Wien ausreisenden Juden in den Siebzigerjahren. Die russischen Juden der fünften Welle zu Beginn der Neunzigerjahre konnte man weder durch ihren Glauben noch durch ihr Aussehen von der restlichen Bevölkerung unterscheiden. Sie konnten Christen oder Moslems oder gar Atheisten sein, blond, rot oder schwarz, mit Stups- oder Hakennase. Ihr einziges Merkmal bestand darin, dass sie laut ihres Passes Juden hießen. Es reichte, wenn einer in der Familie Jude oder Halb- oder Vierteljude war und es in Mari- enfelde nachweisen konnte. Und wie bei jedem Glücksspiel war auch hier viel Betrug dabei. In dem ersten Hundert kamen alle möglichen Leute zusammen: ein Chirurg aus der Ukraine mit seiner Frau und drei Töchtern, ein Bestattungsunternehmer aus Vilna, ein alter Professor, der für die russischen Sputniks die Metall-Außenhülle zusammengerechnet hatte und das jedem erzählte, ein Opernsänger mit einer komi- schen Stimme, ein ehemaliger Polizist sowie eine Menge junger Leute, „Studenten“ wie wir. Man richtete für uns ein großes Ausländerheim in drei Platten- bauten von Marzahn ein, die früher der Stasi als eine Art Erho- lungszentrum gedient hatten. Dort durften nun wir uns bis auf weiteres erholen. Die Ersten kriegen immer das Beste. Nachdem sich Deutschland endgültig wiedervereinigt hatte, wurden die neu angekommenen Juden gleichmäßig auf alle Bundesländer verteilt. Zwischen Schwarzwald und Thüringerwald, Rostock und Mann- heim. Jedes Bundesland hatte eigene Regeln für die Aufnahme. QUELLE: Wladimir Kaminer: Russendisko. München: Wilhelm Goldmann Verlag, 2003, S. 9-14. ¹ Erich Honecker (1912–1994) war Staatschef der Deutschen Demokratischen Republik (DDR). ² kämpfte im Russischen Bürgerkrieg (1918–1922) gegen die Bolschewiki und die noch junge Sowjetmacht Lesen Sie den Text noch einmal und markieren Sie Textpassagen, die Übertreibungen darstellen. Recherchieren Sie Informationen zum Autor Wladimir Kaminer sowie zum geschichtlichen Hinter- grund und vergleichen Sie diese mit den Informationen, die Sie aus dem Text entnommen haben. Gestalten Sie ein Plakat, das den Einfluss der persönlichen Geschichte Kaminers sowie historische Fakten und Ereignisse aus dem Text veranschaulicht. Zwischenstopp Sie sollten nun folgende Teilkompetenzen erworben haben: • verschiedene Funktionen von Texten erklären und bestimmen können • den Begriff Hermeneutik verstehen und Texte auf unterschiedliche Aspekte hin untersuchen können • wissen, was Satire ist A15  A16  C Ó 86 88 90 92 94 96 98 100 102 104 106 108 110 112 Lesen 4  Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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