sprachreif HAK/HTL 3, Schulbuch

131 40 42 44 46 48 50 52 54 56 58 60 62 64 66 68 70 72 74 76 78 80 82 84 „Wir hätten dich auch gerne in die Partei aufgenommen. Aber du weißt doch selbst, du bist Jude und kannst jederzeit nach Israel abhauen.“ „Aber das werde ich doch nie tun“, erwiderte mein Va- ter. „Natürlich wirst du nicht abhauen, das wissen wir alle, aber rein theoretisch gesehen wäre es doch möglich? Stell dir mal vor, wie blöde wir dann schauen.“ So blieb mein Vater für immer ein Kandidat. Die neuen Zeiten brachen an: Die Freikarte in die große weite Welt, die Einladung zu einem Neuanfang bestand nun darin, Jude zu sein. Die Juden, die früher an die Miliz Geld zahlten, um das Wort Jude aus ihrem Pass entfernen zu lassen, fingen an, für das Gegenteil Geld auszugeben. Alle Betriebe wünschten sich auf ein- mal einen jüdischen Direktor, nur er konnte auf der ganzen Welt Geschäfte machen. Viele Leute verschiedener Nationalität wollten plötzlich Jude werden und nach Amerika, Kanada oder Öster- reich auswandern. Ostdeutschland kam etwas später dazu und war so etwas wie ein Geheimtipp. Ich bekam den Hinweis vom Onkel eines Freundes, der mit Ko- piergeräten aus Westberlin handelte. Einmal besuchten wir ihn in seiner Wohnung, die wegen der baldigen Abreise der ganzen Fa- milie nach Los Angeles schon leer geräumt war. Nur ein großer teurer Fernseher mit eingebautem Videorecorder stand noch mit- ten im Zimmer auf dem Boden. Der Onkel lag auf einer Matratze und sah sich Pornofilme an. „In Ostberlin nimmt Honecker Juden auf. Für mich ist es zu spät, die Richtung zu wechseln, ich habe schon alle meine Millionen nach Amerika abtransportiert“, sagte er zu uns. „Doch ihr seid jung, habt nichts, für euch ist Deutschland genau das Richtige, da wimmelt es nur so von Pennern. Sie haben dort ein stabiles sozia- les System. Ein paar Jungs mehr werden da nicht groß auffallen.“ Es war eine spontane Entscheidung. Außerdem war die Emigra- tion nach Deutschland viel leichter als nach Amerika: Die Fahr- karte kostete nur 96 Rubel, und für Ostberlin brauchte man kein Visum. Mein Freund Mischa und ich kamen im Sommer 1990 am Bahnhof Lichtenberg an. Die Aufnahme verlief damals noch sehr demokratisch. Aufgrund der Geburtsurkunde, in der schwarz auf weiß stand, dass unsere beiden Eltern Juden sind, bekamen wir eine Bescheinigung in einer extra dafür eingerichteten Westber- liner Geschäftsstelle in Marienfelde. Dort stand, dass wir nun in Deutschland als Bürger jüdischer Herkunft anerkannt waren. Mit dieser Bescheinigung gingen wir dann zum ostdeutschen Poli- zeipräsidium am Alexanderplatz und wurden als anerkannte Ju- den mit einem ostdeutschen Ausweis versehen. In Marienfelde und im Polizeipräsidium Berlin Mitte lernten wir viele gleichge- sinnte Russen kennen. Die Avantgarde der fünften Emigrations- welle. Lesen Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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