sprachreif HAK/HTL 3, Schulbuch

130 Lesen Sie den Beginn des Erzählbandes Russendisko von Wladimir Kaminer (*1967) und notieren Sie die wesentlichen Informationen zu historischen Fakten und Ereignissen sowie über den Ich-Erzähler. A14  2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 Merkenswert: Satire Die Satire ist eine Textform, in der Situationen, Umstände oder Personen auf den Arm genommen bzw. in übertrie- bener Form dargestellt werden. Die Texte dienen hauptsächlich der Unter- haltung, können aber auch gesellschaftskritisch sein. Wladimir Kaminer: Russendisko Russen in Berlin Im Sommer 1990 breitete sich in Moskau ein Gerücht aus: Honecker 1 nimmt Juden aus der Sowjetunion auf, als eine Art Wiedergutmachung dafür, dass die DDR sich nie an den deut- schen Zahlungen für Israel beteiligte. Laut offizieller ostdeutscher Propaganda lebten alle Alt-Nazis in Westdeutschland. Die vielen Händler, die jede Woche aus Moskau nach Westberlin und zurück flogen, um ihre Import-Exportgeschäfte zu betreiben, brachten diese Nachricht in die Stadt. Es sprach sich schnell herum, alle wussten Bescheid, außer Honecker vielleicht. Normalerweise ver- suchten die meisten in der Sowjetunion ihre jüdischen Vorfahren zu verleugnen, nur mit einem sauberen Pass konnte man auf eine Karriere hoffen. Die Ursache dafür war nicht der Antisemitismus, sondern einfach die Tatsache, dass jeder mehr oder weniger ver- antwortungsvolle Posten mit einer Mitgliedschaft in der Kommu- nistischen Partei verbunden war. Und Juden hatte man ungern in der Partei. Das ganze sowjetische Volk marschierte im gleichen Rhythmus wie die Soldaten am Roten Platz – von einem Arbeits- sieg zum nächsten, keiner konnte aussteigen. Es sei denn, man war Jude. Als solcher durfte man, rein theoretisch zumindest, nach Israel auswandern. Wenn das ein Jude machte, war es – fast – in Ordnung. Doch wenn ein Mitglied der Partei einen Ausreise- antrag stellte, standen die anderen Kommunisten aus seiner Ein- heit ziemlich dumm da. Mein Vater, zum Beispiel, kandidierte viermal für die Partei, und jedes Mal fiel er durch. Er war zehn Jahre lang stellvertretender Leiter der Abteilung Planungswesen in einem Kleinbetrieb und träumte davon, eines Tages Leiter zu werden. Dann hätte er insge- samt 35 Rubel mehr gekriegt. Aber einen parteilosen Leiter der Abteilung Planungswesen konnte sich der Direktor nur in seinen Albträumen vorstellen. Außerdem ging es schon deshalb nicht, weil der Leiter jeden Monat über seine Arbeit auf der Parteiver- sammlung im Bezirkskomitee berichten musste. Wie sollte er da überhaupt reinkommen – ohne Mitgliedsausweis? Mein Vater versuchte jedes Jahr erneut in die Partei einzutreten. Er trank mit den Aktivisten literweise Wodka, schwitzte sich mit ihnen in der Sauna zu Tode, aber alles war umsonst. Jedes Jahr scheiterte sein Vorhaben an demselben Felsen: „Wir schätzen dich sehr, Viktor, du bist für immer unser dickster Freund“, sagten die Aktivisten. Lesen 4  Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

RkJQdWJsaXNoZXIy ODE3MDE=