sprachreif HAK/HTL 3, Schulbuch

117 Rettet die Meinungsfreiheit vor ihren seltsamen Beschützern Von Christian Ortner | 29.12.2016 Die Idee, Falschmeldungen im Internet gesetzlich zu unterbinden, ist eine durch und durch kranke. Wir brauchen keine Wahrheitsbürokratie. Dass sich im Internet Falschmeldungen verbrei­ ten wie Grippeviren imWinter, ist zweifellos ein Ärgernis, weil geeignet, einen halbwegs ver­ nunftgetriebenen demokratischen Meinungsbil­ dungsprozess zu erschweren. Das im Netz ver­ breitete Gerücht, Alexander Van der Bellen sei todkrank, gehörte ebenso in diese Kategorie wie die über seinen Kontrahenten, Norbert Hofer, verbreiteten Falschmeldungen in Zusammen­ hang mit seinem Besuch in Jerusalem, die ihn als Lügner erscheinen ließen. Deshalb fordert nun Martin Schulz, abgehender Präsident des Europäischen Parlaments und Vielleicht-Kanzlerkandidat der deutschen SPD, eine gesetzliche Regelung gegen derartige Fal­ schmeldungen. „Da muss der Gesetzgeber tätig werden – und zwar nicht nur national, sondern europäisch“, meinte er dieser Tage. Ein derartiges Verbotsgesetz ist eine durch und durch gruselige Vorstellung. Denn wer, bitte, entscheidet imZweifel, ob ein Text, den ein Blog­ ger, ein Internetmedium oder einfach ein Nutzer sozialer Netzwerke in die Welt setzt, Fake News ist oder nicht? Am Ende würde Herrn Schulz‘ Vorschlag, Falschmeldungen zu unterbinden oder gar strafbar zu machen, riesige Wahrheits­ bürokratien erfordern, um das Tag für Tag zu sortieren. Genau das aber scheint allen Ernstes geplant zu sein, wie der deutsche Justizminister, Heiko Maas, indirekt einbekannte: „Es ist nicht ganz einfach, eine Institution zu schaffen, die so­ zusagen in Form einer Wahrheitskommission entscheidet, was wahr ist und was nicht. Dann muss ja auch noch entschieden werden, was rele­ vant oder was nicht relevant ist“ („Die Zeit“, 15. 12.). Das deutsche Innenministerium wiederum schlägt nach „Spiegel“-Informationen gar die Schaffung eines „Abwehrzentrums gegen Desin­ formation“ vor. Damit wäre die Meinungsfreiheit akut in Lebensgefahr. Denn mit dem Vorwurf, Falschmeldungen zu verbreiten, lässt sich herr­ lich nahezu jede Meinung unterdrücken, die den Herrschenden nicht passt. Wenn jene Instanzen, die darüber entscheiden, was Fake News sind und was nicht, etwa der Meinung sind, der Islam sei keine frauenfeindli­ che Religion, dann könnte künftig jeder bestraft werden, der das im Internet behauptet, sowie jede Plattform, die das öffentlich macht. Vielleicht könnte ja jemand dem Deutschen Schulz ein Exemplar des Grundgesetzes seiner Heimat schenken. Was die dort verankerte Mei­ nungsfreiheit wirklich bedeutet, hat der Bundes­ verfassungsgerichtshof in einemGrundsatzurteil vor ein paar Jahren so formuliert: „Vom Schutz­ bereich der Meinungsfreiheit umfasst sind zum einenMeinungen […], ohne dass es dabei darauf ankäme, ob sie sich als wahr oder unwahr erwei­ sen, ob sie begründet oder grundlos, emotional oder rational sind, oder ob sie als wertvoll oder wertlos, gefährlich oder harmlos eingeschätzt werden. Sie verlieren diesen Schutz auch dann nicht, wenn sie scharf und überzogen geäußert werden.“ Was nun von Politikern gefordert wird, um Fake News zu begegnen, widerspricht daher ganz au­ genscheinlich dem, was die Verfassungsrichter für Meinungsfreiheit halten: auch unwahre, un­ begründete, wertlose oder gar gefährliche Mei­ nungen zu schützen. Eine Meinungsfreiheit, die nur zulässt, was wahr und ungefährlich ist, das ist gar keine Meinungs­ freiheit. Da hingegen, wo im Internet tatsächlich Menschen beschimpft oder verleumdet werden, gibt das herkömmliche Strafrecht ausreichend Instrumente in die Hand der Betroffenen, mit denen sie sich dagegen angemessen wehren kön­ nen. Jeder Versuch, staatliche Organe entscheiden zu lassen, was wahr und was falsch ist im Univer­ sum der Internetkommunikation, was erschei­ nen darf und was nicht, spielt letztlich all den autoritären Kontrollfreak-Regimes von China 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 40 42 44 46 48 50 52 54 56 58 60 62 64 66 68 70 72 74 76 78 80 82 84 Schreiben Nur zu Prüfzwec en – Eigentum des V rlags öbv

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