sprachreif HAK/HTL 2, Schulbuch

83 Humanismus ist ein Aberglaube Von Romain Leick | 01.03.2010 Der britische Philosoph John Gray über den Fortschrittsmythos, die Suche nach dem Sinn der Geschichte und den menschlichen Hang zur Selbstzerstörung […] SPIEGEL: Der Humanismus ist kein Rationalismus, sondern eine Religion? Gray: Ich behaupte, dass die Grundüberzeugung der Huma- nisten, die Geschichte der Menschheit sei eine Fort- schrittsgeschichte, ein Aber- glaube ist. Insofern ist der echte religiöse Glaube ein nützlicher Damm gegen die menschliche Hybris. Für Humanisten enthält die Religion ein subversives Po- tential, deshalb bekämpfen und pervertieren 1 sie sie. SPIEGEL: In IhremBuch „Poli- tik der Apokalypse“ haben Sie das Wirken religiöser Überzeu- gungen, vor allem des Erlö- sungsgedankens und Heilsver- sprechens, im politischen Handeln analysiert. Aber sind nach demEnde des Kommunis- mus Utopien nicht ein für alle Mal diskreditiert? Kämpfen Sie gegen Windmühlen? Gray: Sicher, zu Beginn des 21. Jahrhunderts sind überall die Trümmer politischer Utopien zu besichtigen. Doch während die Linke dahinkümmert, ist die Rechte − genauer der Rechtsliberalismus − zum Sam- melort utopischer Verkündi- gungen geworden. Auf das Pro- jekt des globalen Sozialismus folgte der globale Kapitalismus, angeblich Hand in Hand mit der globalen Demokratie. Auch eine Schimäre, wie es inzwi- schen zu dämmern beginnt. […] SPIEGEL: Kann das utopische Denken wenigstens wie ein Leuchtfeuer wirken, als ferner Orientierungspunkt am Hori- zont, der die Richtung vorgibt? Gray: Ich bezweifle es. Leucht- feuer können ein Schiff auf die Klippe locken. Darin liegt ja ge- rade das Trügerische des Fort- schrittsgedankens. Die Huma- nisten sagen: Das Ziel mag einstweilen unerreichbar sein, aber wir können darauf zuhal- ten. Das sind Sirenengesänge 2 . SPIEGEL: Sie können doch nicht bestreiten, dass es morali- sche Fortschritte auch in der Politik gegeben hat – min- destens seit den Katastrophen in der ersten Hälfte des 20. Jahr- hunderts, eigentlich sogar schon seit der Französischen Revolution. Gray: Das glauben Sie? Jeder vermeintliche Fortschritt ist ambivalent. Wissen kann man kumulieren, ethische Verbesse- rungen nicht. SPIEGEL: Hier eine kleine un- vollständige Liste: die Deklara- tion der Menschenrechte 1789, Abschaffung der Sklaverei, der Kinderarbeit, Emanzipation der Frau, Ächtung von Folter und Angriffskrieg. Nicht perfekt, ge- wiss, aber immerhin. Gray: Was gewonnen wird, kann in einem Lidschlag der Geschichte wieder verlorenge- hen. In einem Lidschlag! Die irakischen Frauen waren unter dem Regime von Saddam Hus- sein freier, als sie es heute sind. Der Sowjetkommunismus war eine Art Industriesklavensys- tem, nicht nur im Gulag 3 . Und wie leicht Folter wieder tragbar werden kann, haben wir in Guantanamo 4 und in Abu Ghu- raib 5 gesehen. […] SPIEGEL: Dass Wissen befreit, dass Erkenntnis auch eine mo- ralische Komponente hat, dass Einsicht und Vernunft das Gute befördern und das Böse zäh- men, das ist die Quintessenz eu- ropäischer Philosophie. Ihr Ab- schied vomHumanismus ist ein frontaler Angriff auf das westli- che Menschenbild und auf zweitausend Jahre Philosophie- geschichte. Gray: Wissen macht uns nicht frei. Ja, das ist eine unstatthafte, schwer erträgliche Wahrheit. Seit Sokrates beruht das westli- che Denken auf der Annahme, dass die Erkenntnis des Wahren unweigerlich zum Guten führt. Die Genesis 6 der Bibel, der My- thos vom Sündenfall, sagt etwas anderes. Die Unschuld ist verlo- ren, sie lässt sich nicht wieder- gewinnen. Wir haben vom Baum der Erkenntnis gegessen, aber wir bleiben zu jeder Tor- heit und zu jeder Bosheit im- stande. […] SPIEGEL: Das Leben als eine Abfolge von Zufällen – besteht der freie Wille in der Kunst der Improvisation, nicht in der Ent- scheidung zwischen Gut und Böse? Gray: Jedenfalls kann das rich- tige Leben nicht imVersuch be- 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 40 42 44 46 48 50 52 54 56 58 60 62 64 66 68 70 72 74 76 78 80 82 84 86 88 90 92 94 96 98 100 102 104 106 108 110 112 114 116 118 120 122 124 126 128 Lesen Reflexion Literatur Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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