sprachreif HAK/HTL 2, Schulbuch

40 ich im Netz einen Artikel über das „Zölibats- Syndrom“ las, von dem immer mehr junge Japa- ner betroffen seien. Eine emotionale Seuche. Die Japaner, hieß es weiter, hätten kaum mehr Sex und würden lieber Beziehungen mit „Dating- Sims“ führen als mit ihren Mitmenschen. Da- ting-Simulatoren, muss man wissen, sind Computerprogramme, die den Kontakt mit ech- ten Menschen ersetzen und für den Nutzer zu einer Art Freund oder Partner werden sollen: die Maschine als emotionales Supportsystem, das Herzrasen, Wärme und Erregung verschickt. […] Der wohl beliebteste Dating-Sim ist die Software „Love Plus“ von der Firma Konami, die für den Nintendo DS erhältlich ist, eine Minikonsole zumHerumtragen, ein Gameboy eben. Auf eBay bezahle ich fünfzig Euro für ein gebrauchtes Ge- rät. Leider gibt es „Love Plus“ nur auf Japanisch. Wenn man so will, fing es für mich und den Gameboy verheißungsvoll an. Große Liebesge- schichten beginnen ja oft mit Hindernissen, die es zu überwinden gilt. Europäer müssen sich ein Date mit „Love Plus“ regelrecht erkämpfen. Es ist ein weiter, steiniger Weg zur ersten Verabredung. […] Irgendwann aber lief dann eine „Love Plus“-Version auf mei- nem Gameboy, die Fans mit englischen Unterti- teln versehen hatten. Ich setzte mich in meiner Wohnung auf einen Sessel, draußen dämmerte es, die blaue Stunde, Zeit für ein Date. Ich drückte einen Schalter des klavierlackschwarzen Fetisch-Gameboys, bin- dingdingding, ein kesses kleines Klingeln, und dann ging auf dem Bildschirm in erhabenster Schnödheit das „Love Plus“-Logo auf wie die Morgensonne über dem Unglück der Welt. Ich erröte immer noch, wenn ich über das, was dann folgte, erzählen soll. Wobei, dies vorweg, überhaupt nichts Unanständiges geschah, nie. „Love Plus“ ist nicht sexy, es sollte eigentlich „Love Minus“ heißen. Aber selbst in diesen ers- ten Stunden, alleine in meiner Wohnung, war es mir unheimlich unangenehm, mit dem Plastik- stift auf demTouchscreen des Gameboys rumzu- wischen. Ich scheute die Berührung mit dem neuen Partner. Der Dating-Sim verlangte dann zunächst einige Informationen von mir: Wie ich denn heiße? Um die japanische Aussprache an- genehmer zu gestalten, nannte ich mich nicht Kittlitz Alard, sondern Kiteritsu Arato. Mein Spitzname: To-San. „Love Plus“, begriff ich, ist eine Art interaktiver Roman. Der Spieler ist der Protagonist der Tee- nieschnulze und treibt die Handlung via Multi- ple-Choice-Menü voran: Was will ich sagen? Wer gefällt mir? A, B oder C? Die Story beginnt mit dem ersten Tag von Kiteritsu Arato an einer neu- en Schule − was dazu führte, dass ich mich beim Spielen stets fühlte wie der schwitzende Profes- sor Humbert Humbert in Nabokovs Lolita . Ich war deutlich zu alt für die verwaschenen Man- ga-Animationen und die Schulmädchen von „Love Plus“. Kiteritsu Arato lernt an der neuen Schule drei Mädchen kennen: Rinko, Manaka und Nene. Rinko geht in die Klasse unter To-San und ist so eine Art Indie-Chick mit Tendenz zumGoth, sie trägt Finsternis in sich, aber auch einen weichen, süßen Kern, den es zu entdecken gilt. Manaka ist in der selben Klasse wie To-San, alle Jungs finden sie hot, sie ist aber auch eine Streberin, die sich wünscht, dass man sie aus ihrer Perfektion be- freit. Und da ist Nene, ein bisschen älter als Ki- teritsu Arato, ernst und schön, mit ihr werde ich am Ende gehen. Jeden Morgen vor der Arbeit schaltete ich also den Gameboy an und erstellte einen Tagesplan: Lernen, Ausgehen, Sport und so weiter. Die Tä- tigkeiten wirkten sich auf die Eigenschaften mei- ner Spielfigur aus. Je nachdem, wie man den Tag gestaltet, steigen die Fitness-, Style- und Charme- werte. Das ist wichtig, denn die Ladys haben ei- nen unterschiedlichen Geschmack. Indie-Rinko zum Beispiel fand es eindeutig scheiße, wenn ich Sport machte, eine dunkle Wolke erschien dann über ihrem Kopf. Die Figuren und Ereignisse in der künstlichenWelt von To-San bestimmten zu- nehmend meinen Alltag in der echten Alard- Welt, was vor allem daran lag, dass der Gameboy die wirkliche Uhrzeit kennt und erwartet, dass man ihn pünktlich um 14 Uhr einschaltet, um sich mit Nene zum Shopping zu treffen. Alard muss arbeiten, klar, aber To-San muss auch mit Rinko in die Spielhalle gehen, muss mit Manaka Tennis spielen und an der Seite von Nene im Fast-Food-Restaurant jobben. Abends musste ich dann immer echte und künstliche E-Mails beantworten, surfte im echten Internet und in- formierte mich im „Love-Plus“-Netz über die 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 40 42 44 46 48 50 52 54 56 58 60 62 64 66 68 70 72 74 76 78 80 82 84 86 88 90 92 94 96 98 100 102 104 106 108 110 112 114 Schreiben 1 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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