sprachreif HAK/HTL 2, Schulbuch

32 chiater M. Scott Peck, „als Psychiater tut es mir im Herzen weh, fast täglich sehen zu müssen, welche Verwirrung und welches Leid dieser My- thos anrichtet.“ Viele Patienten, so Peck, werden mit der Enttäuschung, dass es die große Liebe aus den Hollywoodfilmen in ihrem Leben nicht gibt, einfach nicht fertig: „Millionen von Men- schen verschwenden ungeheure Mengen an Energie mit dem verzweifelten und vergeblichen Versuch, die Realität ihres Lebens mit dem unre- alistischen Mythos Liebe in Einklang zu brin- gen.“ Solche Befunde sind nicht neu. Erich Fromm warnte schon 1956 vor der „Pseudoliebe“ und ihren fatalen Konsequenzen: „Da in der Regel niemand auf die Dauer die Erwartungen eines so abgöttisch Liebenden erfüllen kann, muss es zu Enttäuschungen kommen, und man sucht sich mit einem neuen Idol zu entschädigen, manch- mal in einem nicht endenden Kreislauf.“ Fromm hatte die Hollywoodfilme der fünfziger Jahre vor Augen und die ersten Opfer des modernen Lie- beskultes. Ein halbes Jahrhundert später hat sich der Mythos Liebe, angefeuert von einer völlig entfesselten Unterhaltungsindustrie, weltweit ausgebreitet. Die Scheidungsraten steigen, die serielle Monogamie ist zum Normalfall des Le- bens geworden. Liebe hat ein Verfallsdatum. Das psychische Leid beginnt aber keinesfalls erst mit dem Scheitern der hoffnungsvoll begonne- nen Liebe. Es fängt an lange bevor es zu einer ersten Beziehung kommt. Denn schon den klei- nen Kindern wird eingetrichtert, dass der Sinn des Lebens darin besteht, sich zu verlieben. Es gibt Bücher für Kinder im Kindergartenalter, die erklären, dass „Schmetterlinge im Bauch“ ein Hinweis auf die erste Liebe sind und ein Kribbeln auf der Haut auf akutes Verliebtsein hindeutet. Und es gibt Psychologen wie Andreas Engel, […] die meinen, dass der Kindergarten genau der richtige Ort für die erste romantische Liebe ist: „Kinder können sich tatsächlich richtig verlie- ben. Das sollte man unbedingt akzeptieren.“ Jede Religion braucht Propheten und Prediger. Immer geht es nur darum: den Richtigen zu finden Wer dagegen die Sandkastenzeit traurigerweise noch ohne Schmetterlinge im Bauch erleben musste, hat spätestens bis zum Ende der Grund- schulzeit verstanden, worum es ab jetzt im Leben gehen wird: verliebt sein! Den Richtigen finden! Es ist überhaupt nicht ungewöhnlich, dass schon Zehn- oder Zwölfjährige an der familiären Kaf- feetafel quer über den Tisch gefragt werden: „Und, hast du schon eine Freundin?“ Die Mutter wird dem verlegenen Jungen dann zu Hilfe kom- men und salomonisch sagen: „Das hat doch noch Zeit.“ Doch das Kind wird zwei wichtige Botschaften aus dem ausgesprochen peinlichen Gespräch mitnehmen: 1. Ohne Freundin ist man eigentlich minderwertig und noch kein vollwer- tiger Mensch. 2. Die Zeit läuft. So gesehen liegt die Tragik des Liebeskultes nicht nur in den von Heilserwartungen überfrachteten Beziehungen selbst, die Tragik beginnt schon zu- vor, bei der energisch aufgeladenen, manchmal hysterischen Suche nach einer solchen Liebeser- fahrung: „Partnersuche ist in unserer Kultur zur Ersatzreligion aufgestiegen“, sagt die Sozialphilo- sophin Katharina Ohana. „Sie wird (besonders für Frauen) vor jeden anderen Erfolg gestellt: Partnersuche ist zum hauptsächlichen Lebens- sinn und Lebensglück hochstilisiert worden.“ […] Kein Wunder, denn die Populärkultur kennt ei- gentlich kein anderes Thema als die romantische Liebe. Würde man für einen Tag auf jeden Love Song im Radio verzichten, auf jeden Werbespot und auf jeden Film, in dem sich schon wieder zwei Menschen überglücklich in die Arme fallen, blieben die Radios stumm und die Bildschirme dunkel. Selbst Krimis, Kinderfilme, Comedies und Kochsendungen kommen ohne eine kräftige amouröse Beimischung nicht aus. Das erfolgrei- che Album der deutschen Band „Frida Gold“ fasst endlich prägnant zusammen, was unausge- sprochen ohnehin längst alle denken: „Love is my religion.“ […] Wer den Liebeskult kritisiert, gilt als herz- loser Technokrat Religionskritik hat es dagegen schwer. Wer seine Stimme gegen den quasireligiösen Liebeskult er- hebt, hat ganz schlechte Karten. Er gilt entweder als herzloser Technokrat, unromantisch und ge- fühlskalt, oder man mutmaßt, dass er selbst wohl nicht die Richtige gefunden hat und deshalb an- deren ihre glückliche Beziehung neidet. Wer dar- auf hinweist, dass Liebe eigentlich etwas ganz 104 106 108 110 112 114 116 118 120 122 124 126 128 130 132 134 136 138 140 142 144 146 148 150 152 154 156 158 160 162 164 166 168 170 172 174 176 178 180 182 184 186 188 190 192 194 196 198 200 Reflexion Medien 1 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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