sprachreif HAK/HTL 2, Schulbuch

171 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 Technologische Aufklärung Mündigkeit und Datenschutz Von Thomas Damberger | 01.03.2017 Es herrscht ein zunehmender Druck, sich den Möglichkeiten des Digitalen zu öffnen und keinesfalls zu verweigern, wenn man denn den Anschluss nicht verlieren will. Wer aber hat Interesse an dieser teuflischen Eile? Immanuel Kant hat vor über 200 Jahren die Auf- klärung als Ausgang aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit charakterisiert. Ein unmündiger Mensch zeichnete sich für den Philosophen aus Königsberg dadurch aus, dass er nicht selbstän- dig denkt, sondern andere für sich denken lässt. Dabei ist der Mensch durchaus in der Lage, selb- ständig zu denken, allerdings ist es weitaus be- quemer, andere für sich denken zu lassen. Kant verweist auf Bücher, die einen mit Informationen versorgen, und auf den Arzt, der Anweisungen zur gesunden Ernährung erteilt. Es ist einfacher, auf jene zu hören, die einem sagen, was zu tun und wie zu leben ist. Die Freizügigkeit ist legitim, aber … Heute erleben wir angesichts von Big Data 1 , Deep Learning 2 und künstlicher Intelligenz eine Zuspitzung jener Unmündigkeit, die Kant sei- nerzeit angemahnt hat. Eric Schmidt, Vorstands- vorsitzender von Google bzw. Alphabet Inc., hat es in einem Interviewmit dem «Wall Street Jour- nal» imAugust 2010 auf den Punkt gebracht. Die meisten Menschen, so Schmidts Überzeugung, wollen nicht, dass Google ihre Fragen beantwor- tet, sondern dass Google ihnen sagt, was sie als Nächstes tun sollen. Die zahlreichen Applikationen, die mittlerweile auf etlichen Smartphones installiert sind, schei- nen Schmidt recht zu geben. Das beginnt mit der Navigations-App, die uns verrät, wie genau wir zu fahren haben, um am schnellsten unser Ziel zu erreichen, und reicht über Fitness-Apps, die unser Trainings- und Ernährungsprogramm zu- sammenstellen, bis hin zu kleinen digitalen Hel- fern, die uns daran erinnern, wann wir welche Medikamente einnehmen oder schlichtweg ein Glas Wasser zu uns nehmen sollten. Dass Programme in der Lage sind, uns genau das zu empfehlen, was wir gerade benötigen oder wollen (sollen), ist Ergebnis eines ausgesprochen freizügigen Umgangs mit unseren Daten. An und für sich ist eine solche Freizügigkeit durch- aus legitim. Menschen können sich selbstver- ständlich bewusst dafür entscheiden, ihre Daten möglichst offenzulegen, um mit Unterstützung von zahlreichen Apps schneller, effizienter oder schlichtweg einfacher und bequemer ihre Ziele zu erreichen. Die Frage ist allerdings, auf welcher Grundlage eine solche Entscheidung getroffen wird. Erst wenn zunehmend Klarheit darüber herrscht, was mit neuen digitalen Medien möglich ist, kann ein mündiger Umgang mit den eigenen Daten stattfinden. Die Entwicklungen im Bereich der digitalen Technologien sind nicht nur komplex und für die meisten Menschen kaum nachvollziehbar, sondern gehen überdies auch noch rasend schnell vonstatten. Ein derart hohes Mass an Ge- schwindigkeit und Komplexität lässt zu Recht Zweifel hinsichtlich der eigenen Kompetenz auf- kommen, technische Entwicklungen tatsächlich abzuschätzen. Zugleich herrscht ein zunehmender Druck, sich den Möglichkeiten des Digitalen zu öffnen und keinesfalls zu verweigern, wenn man denn den Anschluss nicht verlieren will. Goethe hat hier- für ein wunderbares Wort erfunden: «velozife- risch». Es handelt sich um ein Kunstwort, zu- sammengesetzt aus «velocitas» (Eile) und «luziferisch» (teuflisch). Bildung braucht Zeit Wer aber hat Interesse an dieser teuflischen Eile? Es sind jene, die an einem mündigen Menschen kein Interesse haben. Für Kant war Mündigkeit das Ziel von Bildung. Und Bildung wiederum braucht Zeit; sie kann weder erzwungen noch ge- macht, wohl aber ermöglicht werden. 40 42 44 46 48 50 52 54 56 58 60 62 64 66 68 70 72 74 76 78 Schreiben Kompetenz- check Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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