sprachreif HAK/HTL 2, Schulbuch

162 Immanuel Kant: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Un- mündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Ver- standes ohne Leitung eines anderen zu bedie- nen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung. Faulheit und Feigheit sind die Ursachen, warum ein so großer Teil der Menschen, nachdem sie die Natur längst von fremder Leitung frei ge- sprochen (naturaliter maiorennes), dennoch gerne zeitlebens unmündig bleiben; und warum es Anderen so leicht wird, sich zu deren Vor- mündern aufzuwerfen. Es ist so bequem, un- mündig zu sein. Habe ich ein Buch, das für mich Verstand hat, einen Seelsorger, der für mich Ge- wissen hat, einen Arzt, der für mich die Diät be- urteilt, u.s.w., so brauche ich mich ja nicht selbst zu bemühen. Ich habe nicht nötig zu denken, wenn ich nur bezahlen kann; andere werden das verdrießliche Geschäft schon für mich überneh- men. Daß der bei weitem größte Teil der Men- schen (darunter das ganze schöne Geschlecht) den Schritt zur Mündigkeit, außer dem daß er beschwerlich ist, auch für sehr gefährlich halte: dafür sorgen schon jene Vormünder, die die Oberaufsicht über sie gütigst auf sich genom- men haben. Nachdem sie ihr Hausvieh zuerst dumm gemacht haben und sorgfältig verhüte- ten, daß diese ruhigen Geschöpfe ja keinen Schritt außer dem Gängelwagen, darin sie sie einsperrten, wagen durften, so zeigen sie ihnen nachher die Gefahr, die ihnen droht, wenn sie es versuchen allein zu gehen. Nun ist diese Gefahr zwar eben so groß nicht, denn sie würden durch einigemal Fallen wohl endlich gehen lernen; al- lein ein Beispiel von der Art macht doch schüch- tern und schreckt gemeinhin von allen ferneren Versuchen ab. Es ist also für jeden einzelnen Menschen schwer, sich aus der ihm beinahe zur Natur gewordenen Unmündigkeit herauszuarbeiten. Er hat sie so- gar lieb gewonnen und ist vor der Hand wirklich unfähig, sich seines eigenen Verstandes zu be- dienen, weil man ihn niemals den Versuch da- von machen ließ. Satzungen und Formeln, diese mechanischen Werkzeuge eines vernünftigen Gebrauchs oder vielmehr Mißbrauchs seiner Naturgaben, sind die Fußschellen einer immer- währenden Unmündigkeit. Wer sie auch abwür- fe, würde dennoch auch über den schmalsten Graben einen nur unsicheren Sprung tun, weil er zu dergleichen freier Bewegung nicht ge- wöhnt ist. Daher gibt es nur Wenige, denen es gelungen ist, durch eigene Bearbeitung ihres Geistes sich aus der Unmündigkeit heraus zu wickeln und dennoch einen sicheren Gang zu tun. Daß aber ein Publikum sich selbst aufkläre, ist eher möglich; ja es ist, wenn man ihm nur Frei- heit läßt, beinahe unausbleiblich. Denn da wer- den sich immer einige Selbstdenkende sogar unter den eingesetzten Vormündern des großen Haufens finden, welche, nachdem sie das Joch der Unmündigkeit selbst abgeworfen haben, den Geist einer vernünftigen Schätzung des eigenen Werts und des Berufs jedes Menschen selbst zu denken um sich verbreiten werden. Besonders ist hierbei: daß das Publikum, welches zuvor von ihnen unter dieses Joch gebracht worden, sie da- nach selbst zwingt darunter zu bleiben, wenn es von einigen seiner Vormünder, die selbst aller Aufklärung unfähig sind, dazu aufgewiegelt worden; so schädlich ist es Vorurteile zu pflan- zen, weil sie sich zuletzt an denen selbst rächen, die oder deren Vorgänger ihre Urheber gewesen sind. Daher kann ein Publikum nur langsam zur Aufklärung gelangen. Durch eine Revolution wird vielleicht wohl ein Abfall von persönlichem Despotismus und gewinnsüchtiger oder herrsch- süchtiger Bedrückung, aber niemals wahre Re- form der Denkungsart zustande kommen; son- dern neue Vorurteile werden ebensowohl als die alten zum Leitbande des gedankenlosen großen Haufens dienen. […] QUELLE: http://gutenberg.spiegel.de/buch/beantwortung-der-frage-was-ist-aufklarung-3505/1 ; (abgerufen am 12.02.2015) (in Original-Rechtschreibung) 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 40 42 44 46 48 50 52 54 56 58 60 62 64 66 68 70 72 74 76 78 80 82 84 86 88 Reflexion Literatur 5 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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