sprachreif HAK/HTL 2, Schulbuch

139 Schmerzen hilft es zum Beispiel, das Gehirn ge- zielt vom unangenehmen Reiz abzulenken. Als vermeintlich erfolgreiche Vertreter dieser Lehre fallen die stoischen Fakire auf ihren Nagel- betten auf – aber ihre Gelassenheit beruht auf einem Trick. Durch die Vielzahl der Nägel ver- teilt sich der Druck der Spitzen auf erträgliche Weise. Der Sonnentanz der amerikanischen Lakota-Indianer demonstriert hingegen das be- täubende Potenzial der Konzentration viel bes- ser. Die Tänzer lassen sich die Haut durchboh- ren, fädeln Seile durch die Löcher und fixieren diese für eine Nacht an einem Stamm. Im Mor- gengrauen reißen sie sich dann, ganze Hautstü- cke zurücklassend, scheinbar schmerzfrei von diesemBaumdes Lebens los. Es gibt Mutmaßun- gen, dass der Spruch „Ein Indianer kennt keinen Schmerz“ auf diese Zeremonie zurückgeht. […] Entscheidend ist eine Erkenntnis: So wie wir schmerzbedingte Verhaltensmuster erlernen, können wir sie auch wieder verlernen. […] Schmerzreize werden als deutlich weniger stark empfunden, wenn einem dabei ein geliebter Mensch die Hand hält. Im Mittelalter hatten die gefürchteten Bader keine Spritze zur Hand gegen die Schmerzen des Zähneausreißens – dafür machten sie aus dem Ereignis eine Show. Der Geplagte ging nicht ins zahnärztliche Privatissi- mum, sondern ertrug die blutige Extraktion als öffentlichen Event auf dem Marktplatz. Alle wa- ren da und litten mit. Das half. Einsamkeit oder Spannungen zwischen Menschen können indes das Gegenteil bewirken: Wir nehmen den Schmerz noch schlimmer wahr. Ausgegrenztsein aus der Gemeinschaft löst im Gehirn ähnliche Aktivitätsmuster aus wie körperliche Qual. Es gibt sogar eine gruppenstärkende Funktion des Schmerzes, die sich viele Religionen zunutze ma- chen. Die Shiiten traktieren sich selbst beim Aschurafest mit Geißeln, Hindus bohren sich während des Thaipusam-Festivals Eisenstangen durch Wangen und andere Körperteile, und im philippinischen San Fernando lassen sich jedes Jahr am Karfreitag besonders leidensfähige Ka- tholiken ans Kreuz nageln. Coram publico na- türlich, denn: Schmerz verbindet. In einer säkularen, aufgeklärten Gesellschaft kommt diese Art von „Schmerzdialog“ freilich allenfalls noch in den Schlägereien nach Fußball- spielen zustande. Und die pharmazeutische In- dustrie trägt dazu bei: Jedes Aufflackern eines unangenehmen Reizes wird mit Tabletten unter- drückt, und so verliert der Schmerz seine Kom- munikationsfunktion. QUELLE: DIE ZEIT N°8 2015, 19. Februar 2015, Printausgabe, S. 33-34. 96 98 100 102 104 106 108 110 112 Beantworten Sie folgende Fragen zur Epoche des Barock. a. Welche Motive wiederholen sich besonders oft in der barocken Lyrik? 4 114 116 118 120 122 124 126 128 130 132 134 136 138 140 142 144 146 148 Schreiben Reflexion Literatur Kompetenz- check Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des V rlags öbv

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