sprachreif HAK/HTL 2, Schulbuch

138 Rozin meint, weil wir zu einer Art von gutarti- gem Masochismus tendieren, bei dem wir ohne Gefahr und für überschaubare Zeit über den Schmerz triumphieren. Solch kleine Siege lösen eine regelrechte Euphorie aus. „Ich schnappe nach Luft, als mich der köstliche, lustvolle Schmerz durchzuckt“, haucht die Protagonistin Anastasia Steele in Fifty Shades of Grey . Ganz anders als um diesen unterhaltsamen „U-Schmerz“ ist es hingegen um den ernsten „E-Schmerz“ bestellt. Bösen, krankheitsbeding- ten Schmerz bekämpfen wir mit allen Mitteln. 153 Millionen Packungen Schmerzmittel, soge- nannte Analgetika, wurden bei uns 13 2013 ver- kauft, etwa zwei Drittel davon ohne Rezept. […] Schmerz ist eine extrem subjektive Empfindung. Was den einen die Wände hochtreibt, empfindet der andere womöglich als stimulierend. Schmerz und Lust liegen eng beieinander. Marathonläufer werden für ihre Schinderei oftmit einemGlücks- gefühl (dem runners high ) belohnt; Masochisten gelangen dank Schmerz zum Orgasmus; und of- fenbar können sogar schärfste mexikanische Chilisuppen Entzücken auslösen. Diese Hochge- fühle sind möglich, weil Schmerz ein Lehrmeis- ter ist, der nicht nur die Peitsche kennt, sondern auch das Zuckerbrot – in Gestalt sogenannter Endorphine. Die körpereigenen Botenstoffe werden immer dann im Gehirn ausgeschüttet, wenn wir eine positive Lernerfahrung machen.[…] Schädliche Aktionen werden durch Schmerz bestraft, er- folgreiche mit einer Prise Endorphin versüßt. Vor allem das Abebben unangenehmer Erfah- rungen wird als Belohnung empfunden. Herr- lich, wenn der Schmerz nachlässt. Genau das macht sich die moderne Schmerzbe- kämpfung zunutze: Statt die negative Emotion lediglich abstellen zu wollen, versucht sie gezielt, positive Emotionen anzuregen und damit die Endorphin-Produktion imGehirn anzukurbeln. Das Erlebnis, dass eine scharfe Suppe uns nicht vergiftet, sondernWohlgefühl spendende Boten- stoffe im Hirn freisetzt, ist ein gelungenes Spiel mit dem Lehrmeister Schmerz. Wir nehmen die Schärfe gern in Kauf, weil der Geschmack des Essens dadurch intensiver wird. Entscheidend ist dabei die Bilanz der Emotionen. Die Aussicht auf einen Erfolg lässt uns vielerlei Pein ertragen: Selbst die fürchterlichen Schmerzen einer Ge- burt weichen alsbald der Freude, liegt erst das Neugeborene im Arm der Mutter. „Schmerz ist eben nicht immer gefährlich“, sagt die norwegi- sche Psychologin Siri Leknes, die in ihrem Labor mögliche positive Effekte des Schmerzes unter- sucht. Aber wie lässt sich der unangenehme Schmerz in eine erträgliche Erfahrung umwandeln? In The- rapien geht es zunächst darum, das Gefühl der Hilflosigkeit zu überwinden. Noch schlimmer als der Schmerz kann nämlich die Angst davor sein. Wer sich als Opfer des Schmerzes fühlt, je- des Zwicken ängstlich registriert, wird zur Geisel der Qual. Wer sich jedoch selbst als Akteur er- lebt, wer sein Schmerzempfinden bewusst beein- flussen kann, ist weit besser dran. Allein das Wis- sen darum, dass Schmerz im Kopf entsteht und nicht jeder Stich für einen bedrohlichen Körper- schaden steht, kann den Schmerz lindern. Strate- gien moderner Schmerztherapeuten versuchen, den Patienten die Kontrolle über das Schmerz- empfinden zurückzugeben. Gegen akute 24 26 28 30 32 34 36 13 Anmerkung: in der BRD 38 40 42 44 46 48 50 52 54 56 58 60 62 64 66 68 70 72 74 76 78 80 82 84 86 88 90 92 94 Schreiben 4 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

RkJQdWJsaXNoZXIy ODE3MDE=