sprachreif HAK/HTL 2, Schulbuch

112 MEINUNG Wiedergeburt: Nächstes Mal werde ich Regenwurm Von Florian Aigner | 01.11.2016 Der Glaube an Wiedergeburt ist erstaunlich verbreitet. Östliche Philosophie und westliche Kon- sum-Mentalität verbinden sich zu einem gefährlichen Gemisch. Wenn das Leben zu Ende geht – wo kann man dann ein neues vorbestellen? Viele Leute wollen sich nicht damit abfinden, dass ein einziges irdi- sches Leben alles gewesen sein könnte, und der himmlische Jenseitsglaube hat auch nicht mehr so viele Anhänger wie früher, schließlich ist nicht einmal eindeutig überliefert, ob man imHimmel überhaupt das Smartphone aufladen kann. Aber zum Glück kann man sich ja heute im Super- markt der weltweiten Spiritualität frei bedienen, und so wurden fernöstliche Wiedergeburts- Theorien populär: 20 bis 30% der Bevölkerung in Österreich und Deutschland sollen Umfragen zufolge an Wiedergeburt glauben. Ein Anschein von Fairness Das Konzept der Wiedergeburt klingt zunächst recht sympathisch. Wir alle haben in der Schule gelernt, dass Recycling eine gute Sache ist – wa- rum sollte das Universummit Seelen verschwen- derischer umgehen als wir mit Joghurtbechern? Außerdem erweckt es oberflächlich betrachtet den Anschein von Fairness: Wenn man sich un- gebührlich benimmt, dann wird man in uner- freulicherer Form wiedergeboren – vielleicht als Grottenolm oder als Dschungelcamp-Kandidat. Wenn man allerdings ein anständiges Leben führt, dann wird man hochgestuft, zum Beispiel vom Physiker zum Millionenerben, oder viel- leicht von der Laborratte zumwissenschaftlichen Versuchsleiter. Da stoßen wir aber auch schon auf das erste Pro- blem: Vielleicht wollen wir dieses Karma-Upgra- de gar nicht? Wäre das Leben als Regenwurm nicht möglicherweise entspannter? Vielleicht sind manche schlecht erzogenen Haustiere des- halb so unausstehlich, weil sie unsere Zivilisation kennengelernt haben und keinesfalls als Mensch wiederkehren wollen? Und wer entscheidet eigentlich, was gutes und schlechtes Verhalten ist? Wenn ein Krokodil fachgerecht eine Antilope zerlegt, ist das dann gutes Krokodilverhalten, das mit Karma-Upgra- de belohnt wird, oder ist das Universum eher auf der Seite der Antilopen und das Krokodil wird im nächsten Leben ein Darmbakterium? Worin besteht eigentlich der Teil von mir, der wiedergeboren wird? Was ist meine innerste Es- senz, meine Seele, die bestehen bleibt, auch wenn ich als Kleidermotte wiedergeboren werde? Blei- ben meine moralischen Überzeugungen erhal- ten? Meine persönlichen Vorlieben? Wachsen also im Urwald irgendwo linksliberal-progressi- ve Gummibäume mit Vorliebe für Punkrock, die bloß das Pech haben, sich in ihrer derzeitigen Gestalt nicht wirklich artikulieren zu können? Selber Schuld! Das wahre Problem mit dem Glauben an die Wiedergeburt hat aber mit solchen inneren Lo- gik-Schwierigkeiten gar nichts zu tun. Die große Gefahr ist, dass die Wiedergeburt dazu verwen- det wird, Ungerechtigkeiten schönzureden. Wer krank und schwach ist, hat es nicht anders ver- dient – im früheren Leben hat er eben Schuld auf sich geladen. Wer arm und erfolglos ist, braucht keine Unterstützung – das ist bloß schlechtes Karma. Hilfe für die Unterlegenen und Trost für die Unglücklichen sind überflüssig, das würde bloß die natürliche Gerechtigkeit des Lebens ver- wässern. Wer vom Schicksal an den Rand der Gesellschaft gespült wurde, der soll ruhig sein und auf das nächste Leben hoffen – mit diesem Gedankenschema kann man keine gerechte Ge- sellschaft bauen. Ganz besonders gefährlich wird es, wenn Leute ihre persönlichen Probleme mit Reinkarnations- therapie lösen wollen. In einem tranceähnlichen Zustand werden sie dabei von selbsternannten Reinkarnationstherapeuten in die Zeit vor ihrer 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 40 42 44 46 48 50 52 54 56 58 60 62 64 66 68 70 72 74 76 78 Schreiben Semester- check Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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