sprachreif HAK/HTL 2, Schulbuch

110 eine Ehe zu führen, der einem sympathisch ist. Ich würde nicht sagen: Es ist völlig uninteressant, wen man heiratet. Aber imGesetz steht über Lie- be nichts drin. Dann könnte man auf Liebe überhaupt ver- zichten und Beziehungen am besten arrangie- ren lassen. Oder das erledigt gleich einCompu- terprogramm. Jein. Ich denke, wenn man mit jemandem Tisch und Bett teilt, sollte man sich den schon vorher ein bisschen anschauen. Man hat eine räumliche Nähe, die man nur aushält, wenn man den ande- ren leiden kann. Denke ich mir halt. Man muss sich riechen können. Wenn einem jedes Mal graust, wenn man dem anderen bei der Bade- zimmerbenützung zuschaut, wird man sich wahrscheinlich schwertun. Und da rede ich jetzt noch gar nicht vom Sex. Apropos Sex – der Vollzug der Ehe, also die Verpflichtung zum Sex, steht sehr wohl imGe- setz. Ja. Also hat Ehe nichts mit Liebe zu tun, aber mit Sex schon? Man verpflichtet sich in der Ehe zur umfassen- den Lebensgemeinschaft, das umfasst auch die sexuelle Gemeinschaft. Die grundlose Verweige- rung des Geschlechtsverkehrs ist eine schwere Eheverfehlung. Aber was geht es den Staat an, ob man Sex hat oder nicht? Die Fortpflanzung. Der Zweck der Ehe ist, dass man Kinder zeugen und erziehen soll. Und wennman schon Kinder hat, ist man dann immer noch zum Sex verpflichtet? Ja. Weil die Untreue eine schwere Eheverfehlung ist, muss man in der Ehe Sex haben können. Ein Staat hat Interesse an stabilen Beziehungen. Man darf die Zeit nicht vergessen, in der das Bürgerli- che Gesetzbuch kodifiziert wurde, 1811 war das auf dem Gebiet der Monarchie. Da fürchtete man Zustände wie in der Französischen Revolu- tion, wilde Promiskuität, und schrieb diese Be- stimmung hinein. […] Ich muss Ihnen das vorlesen, diese wunderbaren archaischen Formulierungen. Das ist überhaupt einer meiner Lieblingsparagrafen, der Paragraf 44. „Die Familienverhältnisse werden durch den Ehevertrag gegründet. In dem Ehevertrage er- klären zwei Personen verschiedenen Geschlech- tes gesetzmäßig ihren Willen, in unzertrenn- licher Gemeinschaft zu leben, Kinder zu zeugen und zu erziehen und sich gegenseitig Beistand zu leisten.“ Das ist der Kern. Um ein zeitgemäßes Thema aufzugreifen: Würde man nur die zwei Worte „verschiedenen Geschlechtes“ streichen, wäre die Ehe für alle offen. Dann bräuchten wir nicht ein so unerträglich schlechtes Gesetz wie jenes über die eingetragenen Partnerschaften. „Kinder zeugen“ können 80-jährige Heteros schließlich auch nicht, trotzdem dürfen sie heira- ten. Das heißt, es geht um Gemeinschaft, nicht um Liebe. Ja. Wobei das Wort damals noch streng patriar- chalisch gemeint war. Der Mann hatte das Haus- wesen zu leiten, die Frau gesetzlich zu vertreten und ihr Vermögen zu verwalten. Sie teilte die Vorrechte seines Standes und musste ihm folgen; er bestimmte, wo der Wohnsitz der Familie ist. Sie war verpflichtet, dem Mann im Erwerb bei- zustehen und seine Anordnungen über den Haushalt zu befolgen. Da hat es genügt, wenn der Mann gesagt hat: Die Kinder gehen jetzt ins Bett. Dann musste die Mutter dafür sorgen, dass sie es tatsächlich tun. Wenn ich das höre, stelle ich mir einen klas- sisch bürgerlichen Haushalt vor … Sie sollten sich besser einen klassisch ländlichen Haushalt vorstellen, Österreich war damals ein Agrarstaat. Die oberen Zehntausend waren die Einzigen, die sich so etwas wie Liebesgeschichten tatsächlich leisten konnten. Da hat man halt der Mätresse ein Schloss, ein Haus oder ein Hand- schuhgeschäft eingerichtet, je nach finanziellen Möglichkeiten, und blieb dennoch verheiratet. Bei Bauern ging das nicht. Helene Bauer, die Frau von Otto Bauer, hat das in den Zwanzigerjahren blendend analysiert. Sie schrieb: Sowohl bei den Bauern als auch bei den Handwerkern ist die Bindung durch den ge- meinsamen Erwerb noch viel stärker als durch das Eheband und ist deswegen praktisch unauf- löslich. Weil man einen gemeinsamen Betrieb hat? Ja. Der ländliche Raum war ja der einzige, wo Gütergemeinschaft beider Partner üblich war. Weil eine Frau nicht auf einen Hof geheiratet und sich zu Tode geschuftet hätte, ohne wenigstens zu wissen, dass ihr die Hälfte vom Hof gehört. Bei Handwerkerbetrieben gab es das nicht. Da saß der Mann in der Schusterwerkstatt, 22 24 26 28 30 32 34 36 38 40 42 44 46 48 50 52 54 56 58 60 62 64 66 68 70 72 74 76 78 80 82 84 86 88 90 92 94 96 98 100 102 104 106 108 110 112 114 116 118 120 122 Schreiben Semester- check Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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