sprachreif HAK/HTL 1, Schulbuch

85 Eine Inhaltsangabe schreiben Schritt 3: Überarbeiten Pär Lagerkvist: Der Tod eines Helden In einer Stadt, wo man nie genug Vergnügungen bekommen konnte, hatte ein Konsortium 1 einen Mann engagiert, der oben auf der Kirchturm- spitze auf dem Kopf balancieren, danach hinun- terfallen und sich zu Tode stürzen sollte. Dafür sollte er 500.000 bekommen. Man interessierte sich in allen Gesellschaftsschichten, allen Krei- sen lebhaft für dieses Unternehmen, die Ein- trittskarten waren in wenigen Tagen vergriffen, und man sprach über nichts anderes. Alle fan- den, dass es sehr verwegen sei. Aber man musste ja auch bedenken, dass der Preis danach war. Es war wohl nicht gerade angenehm, hinunterzu- fallen und sich zu Tode zu stürzen, und noch dazu aus solcher Höhe. Aber es musste ja auch zugegeben werden, dass die Bezahlung reichlich war. Das Konsortium, das alles arrangiert hatte, hatte es an nichts fehlen lassen, und man konnte stolz darüber sein, dass so etwas in der Stadt zu- stande gebracht werden konnte. Natürlich wurde die Aufmerksamkeit auch in hohem Grade auf den Mann gerichtet, der es übernommen hatte, die Sache auszuführen. Die Zeitungsreporter stürzten sich mit brennendem Eifer auf ihn, denn es waren nur noch wenige Tage bis zur Vorführung. Er empfing sie wohlwollend in sei- nen beiden Zimmern im vornehmsten Hotel der Stadt. Tja, für mich ist das Ganze ein Geschäft, sagte er. Man hat mir die Summe angeboten, die Sie kennen, und ich habe das Angebot ange- nommen. Das ist alles. – Aber finden Sie es denn nicht unangenehm, dass Sie Ihr Leben dafür las- sen müssen? Man versteht ja, dass es notwendig ist, denn sonst wäre es ja keine große Sensation und das Konsortium könnte nicht so bezahlen wie abgemacht, aber für Sie persönlich kann es doch nicht angenehm sein. – Ja, Sie haben schon recht, und ich habe auch selbst daran gedacht. Aber was muss man nicht alles fürs Geld tun? Auf Grund dieser Äußerungen wurden in den Zeitungen lange Artikel über den bisher unbe- kannten Mann geschrieben, über seine Vergan- genheit, seine Ansichten, seine Einstellung zu verschiedenen akuten Problemen, seinen Cha- rakter und sein Privatleben. Sein Bild war in je- der Zeitung, die man aufschlug. Es zeigte einen kräftigen jungen Mann, sonderlich bemerkens- wert sah er nicht aus, aber verwegen und ge- sund, mit einem energischen, offenen Gesicht, ein typischer Vertreter der besten Jugendlichen von heute, willensstark und gesund. Es wurde in allen Cafés studiert, während man sich auf die bevorstehende Sensation vorbereitete. Man fand es nicht schlecht, ein sympathischer junger Mann, die Frauen fanden ihn wunderbar. Einige, die mehr Verstand hatten, zuckten mit den Schultern: geschickt gemacht, sagten sie. Über eines waren sich alle gleichermaßen einig, wie phantastisch und eigenartig diese Idee war und dass so etwas nur in unserer merkwürdigen Zeit vorkommen könnte mit ihrer Hetze und Intensi- tät und ihrer Fähigkeit, alles zu opfern. Und man war sich darüber einig, dass das Konsortium über alles zu loben sei, weil es keine Kosten scheute, als es darum ging, etwas Derartiges zu- stande zu bringen und der Stadt tatsächlich Ge- legenheit zu geben, Zeuge eines solchen Schau- spiels zu sein. Das Konsortium würde seine Ausgaben wohl sicherlich durch die teuren Ein- trittspreise decken können, aber das Risiko be- stand in jedem Fall. Und endlich kam der große Tag. Die Umgebung der Kirche war brechend voll. Die Spannung war unerhört. Alle hielten den Atem an, angespannt bis zum Äußersten in Erwartung dessen, was geschehen sollte. Und der Mann fiel hinunter, das war schnell getan. Die Menschen schauderten, und man stand auf und begab sich auf den Heimweg. Irgendwie fühlte man sich enttäuscht. Es war schon groß- artig gewesen, aber dennoch. Er hatte sich ja doch nur zu Tode gestürzt. Es war schon teuer bezahlt für etwas, das vergleichsweise so einfach war. Er war bestimmt fürchterlich zugerichtet worden, aber was hatte man schon davon? Ein hoffnungsvoller junger Mann auf diese Weise geopfert. Man ging unzufrieden nach Haus, die Damen spannten ihre Sonnenschirme auf. Nein, solche Scheußlichkeiten vorzuführen, sollte ei- gentlich verboten sein. Wer könnte Vergnügen daran finden? Wenn man richtig darüber nach- dachte, war das Ganze ja doch empörend. QUELLE: Pär Lagerkvist: Schlimme Geschichten. Aus dem Schwedischen von Erik Gloßmann. München: Franz Schneekluth Verlag 1992. 1 Konsortium: Arbeitsgemeinschaft 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 40 42 44 46 48 50 52 54 56 58 60 62 64 66 68 70 72 74 76 78 80 82 84 86 88 90 Schreiben Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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