sprachreif HAK/HTL 1, Schulbuch

80 Prometheus bringt den Menschen das Feuer Himmel und Erde waren geschaffen: im Wasser spielten die Fische, in den Lüften sangen die Vö- gel, der Erdboden wimmelte von Tieren aller Art. Aber noch fehlte das Geschöpf, das dem Geist als Wohnung dienen sollte und das der- einst die Welt beherrschen konnte. Da betrat Prometheus die Erde, ein Nachkomme des alten Göttergeschlechtes, das Zeus entthront hatte; er war kluger Erfindung voll und wusste wohl, dass im Erdboden der Same des Himmels schlumme- re. Darum nahm er einen Klumpen Ton, be- feuchtete ihn mit dem Wasser des Flusses, kne- tete ihn und machte daraus ein Gebilde nach der Gestalt der Götter. Um diesen Erdenkloß zu be- leben, entlehnte er allenthalben von den Tiersee- len gute und böse Eigenschaften und schloss sie in die Brust des Menschen ein. Athene, seine Freundin unter den Göttern, bewunderte die Schöpfung des Titanensohnes und blies dem Bil- de den Atem ein. So entstanden die ersten Menschen, sie ver- mehrten sich und erfüllten bald einen großen Teil der Erde. Lange aber wussten sie nicht, wie sie sich ihrer Gliedmaßen und des göttlichen Geistes bedienen sollten. Unbekannt war ihnen die Kunst, Steine auszugraben und zu behauen, aus Lehm Ziegel zu brennen, Balken aus dem Holze des Waldes zu zimmern und mit allem diesem sich Häuser zu bauen. Sie lebten in Höh- len unter der Erde, und planlos war alles, was sie verrichteten. Da lehrte Prometheus sie den Auf- und Niedergang der Gestirne zu beobachten, erfand ihnen die Kunst zu zählen und die Buch- stabenschrift, er lehrte sie Tiere ins Joch span- nen und sie zur Arbeit zu gebrauchen. Die Pfer- de gewöhnte er an Zügel und Wagen und erfand Boote und Segel für die Schifffahrt. Auch in an- derer Hinsicht sorgte er für das Leben der Men- schen. Wenn früher einer krank wurde, wusste er nicht, was für Speise und Trank ihm zuträg- lich sei, kannte kein Salböl zur Linderung seiner Leiden; sondern in Unkenntnis der Arzneien starben viele elend dahin. Darum zeigte ihnen Prometheus, wie Sie Heilmittel mischen konn- ten. Ferner richtete er ihren Blick auf die Schätze unter der Erde, ließ sie hier Eisen, Silber und Gold entdecken; kurz, er führte sie in alle Ver- richtungen und Künste des Lebens ein. Im Himmel herrschte zu dieser Zeit Zeus mit seinen Kindern, der seinen Vater Kronos ent- thront und das alte Göttergeschlecht gestürzt hatte, von dem Prometheus abstammte. Die neuen Götter wurden bald auf das soeben ge- schaffene Menschengeschlecht aufmerksam, und Zeus hasste Prometheus und seine Ge- schöpfe. Deshalb versagte er den Sterblichen die letzte Wohltat, deren sie noch zu höherer Gesit- tung bedurften, das Feuer. Doch auch hier wuss­ te Prometheus Rat. Er selbst brachte das Feuer zur Erde herab, und bald loderte der erste Holz- stoß gen Himmel. Mit dem Feuer hatte Prome- theus den Menschen den Anfang der gesamten Kultur und der technischen Kultur im Besonde- ren gegeben. Damit hatte aber der Wohltäter der Mensch- heit den Zorn des höchsten Gottes zur Wut ent- facht, und Zeus ersann ihm eine entsetzliche Strafe. Er übergab den Unbotmäßigen dem Feuergott Hephaistos und seinen Dienern. Diese mussten ihn in eine ferne Einöde schleppen und mit unauflösbaren Ketten über einem schauder- baren Abgrund an eine Felswand des Kaukasus schmieden. Hier musste Prometheus an dem Berge hangen, aufrecht, schlaflos, niemals im- stande, das müde Knie zu beugen. Um seine Qualen noch zu steigern, sandte Zeus dem Ge- fesselten täglich einen Adler, der ihm mit spit- zem Schnabel die Leber aus der Brust hackte, die sich dann bis zum nächsten Tag wieder erneuer- te. So duldete der Gepeinigte dreißig Jahre, bis Herakles des Weges gezogen kam und sich sei- nes grausamen Geschickes erbarmte. Er erlegte den Adler mit Pfeil und Bogen, löste die Fesseln und führte den Befreiten mit sich fort. Damit aber das Urteil des Zeus, das den Prometheus für immer an den Felsen gefesselt hatte, nicht unvollzogen blieb, musste dieser fortwährend einen eisernen Ring tragen, an dem sich ein Stückchen von dem Kaukasus befand. So konnte sich Zeus rühmen, dass sein Feind noch immer an den Stein geschmiedet sei. QUELLE: Oskar Ebermann, Sagen der Technik, 1915., S. 33 bzw. http:// www.sagen.at/texte/sagen/sagen_technik/prometheusbringtfeuer.html ; (abgerufen am 22.07.2014) 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 40 42 44 46 48 50 52 54 56 58 60 62 64 66 68 70 72 74 76 78 80 82 84 86 88 90 Reflexion Literatur 3  Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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