sprachreif HAK/HTL 1, Schulbuch

55 Begegnung in der Literatur Wahrscheinlich haben Sie sich im Zuge der ersten Arbeitsaufträge zu diesem Kapitel in Erinnerung gerufen, dass Fremdheit und Anderssein manchmal einen ganz individuellen, persönlichen Stand- punkt voraussetzen und manchmal gesellschaftlich bedingt sind. In der folgenden Kurzgeschichte begegnet ein neunjähriger Bub einem Roma. Die Handlung von Jenö war mein Freund ist in der Zeit des Dritten Reiches, also zur Zeit des Nationalsozialismus, angesiedelt – Menschen, die nicht dem Idealbild des Regimes entsprachen, wurden verfolgt und zu einem großen Teil ermordet. Als die Geschichte 1958 erschien, war das Wort „Zigeuner“ für diese Bevölkerungsgruppe üblich – ein Begriff, der heute als abwertend und rassistisch eingestuft wird. Informieren Sie sich im Internet (z. B. bei Wikipedia) über die Begriffe „Zigeuner“, „Porajmos“ und „Antiziganismus“. Arbeiten Sie in einem Clustering auf Basis Ihrer Recherche Gründe heraus, warum diese Bevölke- rungsgruppe als fremd/anders wahrgenommen wurde. Lesen Sie die Kurzgeschichte. Schreiben Sie in jede Box höchstens fünf Stichworte zum Inhalt des Abschnitts. A18  A19  A20  Wolfdietrich Schnurre: Jenö war mein Freund Als ich Jenö kennen lernte, war ich neun; ich las Edgar Wallace und Conan Doyle, war eben sitzengeblieben und züchtete Meerschwein- chen. Jenö traf ich zum ersten Mal auf dem Stadion am Faulen See beim Grasrupfen; er lag unter einem Holunder und sah in den Him- mel. Weiter hinten spielten sie Fußball und schrien manchmal „Tooooor!“ Ich tat erst, als sähe ich ihn nicht, und rupfte um ihn herum; aber dann drehte er doch ein bisschen den Kopf zu mir hin und blinzelte schläfrig und fragte, ich hätte wohl Pferde. „Nee“, sagte ich, „Meerschweinchen“. Er schob sich den Grashalm in den anderen Mundwinkel und spuck- te aus. „Schmecken nicht schlecht.“ „Ich ess sie nicht“, sagte ich; „dazu sind sie zu nett“. „Igel“, sagte Jenö und gähnte, „die schmecken auch nicht schlecht.“ Ich setzte mich zu ihm. „Igel?“ „Tooooooor!“ Jenö sah wieder blinzelnd in den Himmel. Ob ich Ta- bak hätte. „Hör mal“, sagte ich; „ich bin doch erst neun.“ „Na und“, sagte Jenö; „ich bin acht“. Wir schwiegen und fingen an, uns leiden zu mögen. Dann musste ich gehen. Doch bevor wir uns trennten, machten wir aus, uns möglichst bald wiederzutreffen. Vater hatte Bedenken, als ich ihm von Jenö erzählte. „Versteh mich recht“, sagte er, „ich hab nichts gegen Zigeuner; bloß …“ „Bloß?“ „Die Leute“, sagte Vater und seufzte. Er nagte eine Weile an seinen Schnurrbartenden herum. „Unsinn“, sagte er plötzlich, „schließlich bist du jetzt alt genug, um dir deine Bekannten selbst auszusuchen. Kannst ihn ja mal zum Kaffee mit herbringen.“ 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 Reflexion Literatur Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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