sprachreif HAK/HTL 1, Schulbuch

130 Fiktionale und nichtfiktionale Texte kennenlernen und unterscheiden Im Unterricht begegnen Ihnen unterschiedlichste Arten von Texten. Dazu gehören fiktionale und nichtfiktionale Texte, die sich vor allem darin unterscheiden, wie mit ihnen umgegangen wird. Während Sie im Literaturunterricht vor allem fiktionalen Texten begegnen werden, haben Sie im Bereich Text- und Schreibkompetenz viel mit nichtfiktionalen Texten zu tun. Die fiktionale Beschreibung eines Menschen im Vergleich mit einer nichtfiktionalen Biografie Lesen Sie den folgenden Auszug aus dem fiktionalen Text Die Leiden des jungen Werther von Johann Wolfgang von Goethe. Darin wird Charlotte, in die sich der junge Mann beim ersten Kennenlernen verliebt, von Werther beschrieben. Unterstreichen Sie die Textstellen, die Ihnen Informationen über Charlottes Aussehen und Charakter verraten. Achten Sie darauf, welche Phrasen und Ausdrücke gewählt werden, um Charlotte zu be- schreiben. Beantworten Sie dann folgende Fragen schriftlich: •• Ermöglicht es Ihnen die Beschreibung, sich eine genaue Vorstellung des Charakters zu machen? •• Auf welche Bereiche wird bei der Beschreibung Wert gelegt (Aussehen, Charaktereigenschaften, Verhalten …)? Johann Wolfgang von Goethe: Die Leiden des jungen Werther Dir in der Ordnung zu erzählen, wie’s zugegan- gen ist, dass ich eins der liebenswürdigsten Ge- schöpfe habe kennen lernen, wird schwer halten. Ich bin vergnügt und glücklich, und also kein guter Historienschreiber. Einen Engel! – Pfui! Das sagt jeder von der Seinigen, nicht wahr? Und doch bin ich nicht imstande, dir zu sagen, wie sie vollkommen ist, warum sie vollkommen ist; genug, sie hat allen meinen Sinn gefangenge- nommen. So viel Einfalt bei so viel Verstand, so viel Güte bei so viel Festigkeit, und die Ruhe der Seele bei dem wahren Leben und der Tätigkeit. […] Ich hab’s nicht überwinden können, ich musste zu ihr hinaus. Da bin ich wieder, Wil- helm, will mein Butterbrot zu Nacht essen und dir schreiben. Welch eine Wonne das für meine Seele ist, sie in dem Kreise der lieben, muntern Kinder, ihrer acht Geschwister, zu sehen! Wenn ich so fortfahre, wirst du am Ende so klug sein wie am Anfange. Höre denn, ich will mich zwin- gen, ins Detail zu gehen. […] Unsere jungen Leute hatten einen Ball auf dem Lande angestellt, zu dem ich mich denn auch willig finden ließ. Ich bot einem hiesigen guten, schönen, übrigens unbedeutenden Mädchen die Hand, und es wurde ausgemacht, dass ich eine Kutsche nehmen, mit meiner Tänzerin und ihrer Base nach dem Orte der Lustbarkeit hinausfah- ren und auf demWege Charlotten S. mitnehmen sollte. – „Sie werden ein schönes Frauenzimmer kennenlernen“, sagte meine Gesellschafterin, da wir durch den weiten, ausgehauenen Wald nach dem Jagdhause fuhren. – „Nehmen Sie sich in Acht“, versetzte die Base, „dass Sie sich nicht ver- lieben!“ – „Wieso?“, sagte ich. – „Sie ist schon vergeben“, antwortete jene, „an einen sehr bra- ven Mann, der weggereist ist, seine Sachen in Ordnung zu bringen, weil sein Vater gestorben ist, und sich um eine ansehnliche Versorgung zu bewerben.“ – Die Nachricht war mir ziemlich gleichgültig. […] Ich war ausgestiegen, und eine Magd, die ans Tor kam, bat uns, einen Augenblick zu verziehen, Mamsell Lottchen würde gleich kommen. Ich ging durch den Hof nach dem wohlgebauten Hause, und da ich die vorliegenden Treppen hi- naufgestiegen war und in die Tür trat, fiel mir das reizendste Schauspiel in die Augen, das ich je gesehen habe. In dem Vorsaale wimmelten sechs Kinder von elf zu zwei Jahren um ein Mädchen A16  2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 40 42 44 46 48 50 Lesen Reflexion Literatur 5  Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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