Ex libris Latein-Lektüre, Trainingsband

94 Fachsprachen und Fachtexte Die „Lex Aquilia“ ist – wie etwa auch das Zwölf-Tafel-Gesetz – nur bruchstückhaft und in mehreren Fassungen erhalten. Hier folgen die Textfassungen des 1. und 3. „Kapitels“ (heute würden wir von Paragraphen sprechen), die sich beim Juristen Gaius bzw. bei Ulpian finden: Caput primum: „Qui servum servamve alienum alienamve, quadrupedem 1 vel pecudem iniuriā occiderit, quanti 2 id in eo anno plurimi 2 fuit 2 , tantum 3 aes 3 dare domino 8 damnas 4 esto 4 .“ Caput tertium: „Si quis alteri damnum faxit 5 , quod 6 usserit / fregerit / ruperit iniuriā, quanti 7 ea res erit 7 in diebus a triginta a proximis, tantum 3 aes 3 ero 8 dare damnas 4 esto 4 .“ Caius, Dig. 9,2,2 pr. bzw. 9,2,27 II 2 4 6 1 quadrupes, -pedis : vierfüßiges Tier 2 quanti …plurimi esse: wie viel … der Höchstwert beträgt 3 tantum aes : so viel Geld 4 damnas esto : er soll dazu verpflichtet sein 5 faxit ( altlateinisch ) = fecerit 6 quod : hier: dadurch dass 7 quanti …erit: wie hoch das Schadensausmaß … sein wird 8 dominus , -i m. / erus , -i m. : Herr, Eigentümer a diebus triginta: Mit der 30 Tage-Frist wollte man offenbar einen Spielraum zur Feststellung des Schadens­ ausmaßes geben. Die „Lex Aquilia“ Schon im Zwölf-Tafel-Gesetz, dem ersten römischen Gesetz (um 450 v. Chr.), wurde die Frage des Schadenersatzes behandelt. Ein bahnbrechendes Gesetz war die „Lex Aquilia“, benannt nach demVolkstribunen Aquilius, auf dessen Antrag das Gesetz im Jahre 286 v. Chr. der Überlieferung nach erlassen wurde. Im Gegensatz zum Zwölf-Tafel-­ Gesetz, in dem für bestimmte Vergehen starre Bußbeträge vorgesehen waren, wurde hier „die Höhe des Ersatzes nach dem tatsächlich entstandenen Schaden errechnet“ (so der Wiener Rechtsgelehrte Christoph Schmetterer). Voraussetzung für Schadenersatz nach der „Lex Aquilia“ war die Rechtswidrigkeit (ein Verhalten, das objektiv ge- gen die Rechtsordnung verstößt) und die Schuldhaftigkeit des Verhaltens, d. h. dass derjenige, der einen Schaden zugefügt hat, dies vorsätzlich (lat. „dolo“ , wörtlich: „mit List“) oder fahrlässig (lat. „culpa“, wörtlich: „durch Schuld“) getan hat. An der „Lex Aquilia“ lässt sich auch die Langlebigkeit römischer Gesetze zeigen: So hat etwa Kaiser Gordianus III. im Jahre 241 n. Chr. in einer Rechtsauskunft auf die „Lex Aquilia“ verwiesen, rund 500 Jahre nach der Niederschrift dieses Gesetzes. Aber auch immodernen Privatrecht lebt die „Lex Aquilia“ weiter. Im Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuch (ABGB) , der 1812 in Kraft getretenen Grundlage des österreichischen Privatrechts, heißt es im § 1323 über die Arten des Schadenersatzes (beachte die historische Rechtschreibung): „Um den Ersatz eines verursachten Schadens zu leisten, muß Alles in den vorigen Stand zurückversetzt, oder, wenn dieses nicht thunlich [= machbar] ist, der Schätzungswerth vergütet werden. Betrifft der Ersatz nur den erlittenen Schaden, so wird er eigentlich eine Schadloshaltung; wofern er sich aber auch auf den entgangenen Gewinn und die Tilgung der verursachten Beleidigung erstreckt, volle Genugthuung genannt.“ Reproduktion, Transfer und Reflexion • Fasse den Inhalt der beiden Gesetzestexte in Abschnitt II in eigenen Worten zusammen (R) . • Zeige die sprachlichen Besonderheiten der „Lex Aquilia“ und des Abschnittes aus dem ABGB auf (R, X) . • Arbeite heraus, inwiefern der lateinische Gesetzestext versucht, möglichst allgemeine Bestimmungen zu erlassen (T) . • Vergleiche den lateinischen Text mit dem Paragraphen aus dem ABGB und arbeite Gemeinsamkeiten und Unterschiede heraus (X) . • Diskutiere die beiden folgenden Fälle, die die „Lex Aquilia“ betreffen bzw. nicht betreffen und erkläre den Unterschied: „Wenn du reife Weidezweige so abgeschnitten hast, dass du den Stamm nicht verletzt hast, ist die „Lex Aquilia“ nicht anzuwenden.“ (nach Dig. 9,2,30,2) „Wer unreife Oliven abgepflückt oder unreifes Getreide bzw. unreife Weintrauben abgeschnitten hat, wird nach der „Lex Aquilia“ haften. Wenn sie aber schon reif sind, trifft die „Lex Aquilia“ nicht zu. Denn es ist kein Unrecht, wenn er [der Täter] dir sogar den Aufwand für das Pflücken solcher Früchte geschenkt hat. Wenn er aber das Geerntete davonträgt, haftete er für Diebstahl.“ (nach Dig. 9,2,30,2; Übersetzung: Michael Huber) (T) Nur zu Prüfzw cken – Eigentum des Verla s öbv

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