Ex libris Latein-Lektüre, Trainingsband

15 Schlüsseltexte aus der europäischen Geistes- und Kulturgeschichte Teurnia Der einzige in der „Vita sancti Severini“ genannte Ort, der nicht in Ufernoricum, sondern südlich des Alpenhaupt- kammes, also in Binnennoricum liegt, ist die römische Stadt Teurnia (in der Spätantike als Tiburnia bezeichnet). Sie liegt östlich von Spittal an der Drau. Teurnia war im 5. Jahrhundert metropolis Norici , Hauptstadt von (Binnen-) Noricum. Archäologische Forschungen haben dort seit Anfang des 20. Jahrhunderts bedeutende Funde aus der Zeit des frühen Christentums hervorgebracht, u. a. die Ruinen zweier Kirchen, von denen eine ein einzigartiges Fußbodenmosaik aufweist. Severin versuchte, der notleidenden Bevölkerung an der Donau auf alle mögliche Art zu helfen. Dabei bediente er sich des bereits aus dem Alten Testament bekann- ten Zehents ( lat. decimae, -arum f. Pl. ), also der Abgabe von 10 Prozent der produ- zierten Feldfrüchte, die für die Armen verwendet wurde. Neben Nahrungsmitteln wurden auch Kleider gesammelt, wie die folgende Episode erzählt. Die Geschichte sollte freilich eine ungeplante Wendung nehmen. Pro 1 decimis 1 (…) dandis 1 , quibus pauperes alerentur, Norici quoque populos 2 missis exhortabatur epistulis. Ex qua consuetudine cum ad eum nonnullam 3 erogandarum 4 vestium copiam direxissent, interrogavit eos, qui venerant, si 5 ex oppido quoque Tiburniae b similis collatio mitteretur. Respondentibus etiam inde protinus affuturos 6 , vir a Dei a nequaquam eos venire signavit 7 , sed dilatam 8 eorum oblationem praedixit barbaris offerendam ‹esse›. Itaque non multo post cives Tiburniae b vario cum obsidentibus Gothis certamine dimicantes vix 9 initā foederis pactione 9 inter cetera etiam largitionem 10 iam in unum collatam, quam 11 mittere famulo Dei distulerant 11 , hostibus obtulerunt. Eugipp, Vita sancti Severini 17,4 (gekürzt) III 2 4 6 8 10  1 pro decimis dandis: zur Ablieferung des Zehents ( siehe Einleitung )  2 populi , -orum m. Pl. : hier: Bevölkerung  3 nonnullus , -a, -um: beträchtlich  4 erogandarum ( Gerund ): zur Verteilung  5 si: hier: ob  6 ‹ viros quosdam › affuturos ‹esse ›  7 signare 1: hier: darauf hinweisen ( + AcI )  8 dilatus , -a, -um: verzögert  9 vix …pactione ( Abl. abs. ) : kaum, dass sie einen Friedensvertrag abgeschlos- sen hatten 10 largitio , -ionis f. : Spende 11 quam…distulerant: das sie schon längst dem Diener Gottes ( Severin ) hätten schicken müssen a vir Dei: der Mann Gottes ( Bezeichnung für Severin ) b Tiburnia , -ae f.: Teurnia ( römische Stadt westlich des heutigen Spittal an der Drau; siehe die Einleitung ) Die Goten Zu den zahlreichen Völkern, die ab dem 4. Jahrhun- dert im Zuge der Völkerwanderung aus dem heute südrussischen Raum in das Römische Reich ein- drangen, gehörten auch die Ostgoten. Ab dem 5. Jahrhundert siedelten sie in Pannonien, zogen jedoch bald nach Italien weiter, wo sie sich für mehrere Jahrzehnte ein eigenes Reich schufen. Ihr bekanntester Herrscher war Theoderich der Große (reg. 474–526), dessen Grabmal in Ravenna zu den bedeutendsten Bauwerken der Spätantike gehört. Die Kämpfe vor der Stadt Teurnia fanden im Jahre 467 statt. Der Statthalter von Noricum (der im Text nicht ausdrücklich erwähnt wird) handelte einen Vertrag aus, der den Abzug der Goten gegen Ablie- ferung der Kleiderspende (und weiterer Zahlun- gen, vgl. inter cetera ) möglich machte. Reproduktion, Transfer und Reflexion • Fasse den Inhalt der Abschnitte II und III in eigenen Worten zusammen (R) . • Erläutere, worin das eigentliche Wunder in Abschnitt II besteht (T) . • Zeige auf, wie Alexander Giese die Geschichte in seiner Fassung verändert (T) . • Überlege, welche Lehre der Leser der damaligen Zeit daraus (Abschnitt II) ziehen konnte, und nimm Stellung zur Frage, ob ein derartiger Text auch einem modernen Menschen etwas sagen kann (X) . • Arbeite heraus, inwiefern das Wunder in Abschnitt III ganz anders geartet ist als in Abschnitt II (T, X) . Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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