Ex libris Latein-Textband

99 Sokrates und die Philosophie | Formen der Lebensbewältigung Sokrates vor den Richtern In seiner Verteidigungsrede kommt Sokrates am Ende auch auf den Tod zu sprechen. Cicero gibt einen Teil der Rede, ins Lateinische übersetzt, in seinen „Tusculanae disputationes “ wieder: „Magna me“, inquit, „spes tenet, iudices, bene mihi evenire, quod mittar ad mortem. Necesse est enim, sit 1 alterum de duobus 1 , ut aut sensus omnino omnes mors auferat aut in alium quendam locum ex his locis morte migretur 2 . Quam ob rem, sive sensus extinguitur 3 morsque ei somno similis est, qui non 4 numquam 4 etiam sine visis 5 somniorum 5 placatissimam quietem adfert, di boni, quid 6 lucri est 6 emori! (…) Sin 7 vera sunt, quae dicuntur, migrationem esse mortem in eas oras 8 , quas, qui e vita excesserunt, incolunt, id multo 9 iam beatius est. (…) Haec peregrinatio mediocris vobis videri potest? Ut 10 vero conloqui cum Orpheo a , Musaeo b , Homero c , Hesiodo d liceat, quanti 10 tandem aestimatis 10 ? Equidem saepe emori, si fieri posset, vellem, ut ea, quae dico, mihi liceret invisere 11 . (…) Ne vos quidem iudices ii 12 , qui 12 me absolvistis 13 , mortem timueritis. Nec enim cuiquam bono mali quicquam evenire potest nec vivo nec mortuo, (…) Nec vero ego iis, a quibus accusatus aut a quibus condemnatus sum, habeo 14 , quod 14 suscenseam 15 , nisi quod mihi nocere se crediderunt. (…) Sed tempus est“, inquit, „iam hinc abire, me, ut moriar, vos, ut vitam agatis. Utrum 16 autem sit melius, di immortales sciunt, hominem quidem scire arbitror neminem 17 .“ Cicero, Tusculanae disputationes 1,97–99 (gekürzt) 1 ‹ut› sit alterum de duobus: dass eines von beiden der Fall ist 2 migrare 1 : wandern 3 extínguere 3 : auslöschen 4 non numquam ( Adv .): manchmal 5 visum (-i n .) somniorum: Traumbild 6 quid lucri est: Was bringt es für einen Gewinn? 7 sin: wenn aber 8 ora, -ae f .: Gestade 9 multo (+ Komp .): um vieles, bei weitem 10 quanti …aestimatis, ut…: wie hoch schätzt ihr ein, dass …? 11 invísere 3 : erblicken 12 ii, qui: nämlich diejenigen (von euch), die 13 absólvere 3 : freisprechen 14 habére 2 , quod (+ Konj .): einen Grund haben zu … 15 suscensére 2 : zornig sein 16 utrum: was von beidem 17 neminem = nullum c Homerus, -i m .: Homer ( griechischer Dichter ) d Hesiodus, -i m .: Hesiod ( griechischer Dichter ) 2 4 6 8 10 12 14 16 18 In Platons Dialog „Phaidon“ vertritt Sokrates über den Tod folgende Ansichten: Wenn sie ( die Seele ) sich rein trennt und nichts vom Körper mit sich zieht, weil sie ja mit ihm schon im Leben willentlich nichts gemein hatte, sondern ihn gemieden und sich in sich selbst gesammelt hat, weil sie dies ja immer geübt hat – was aber nichts anderes heißt, als dass sie auf die richtige Weise philosophiert und wahrhaft einübt, leicht zu sterben; oder sollte das nicht ein Einüben des Todes sein? – Gewiss. ( Antwort von Kebes, dem Gesprächspartner des Sokrates ) Wenn sie so beschaffen ist, geht sie dann nicht fort zu dem ihr Gleichen, dem Unsichtbaren, dem Göttlichen und Unsterblichen und Vernünftigen, wo es ihr, dort angekommen, zuteil wird, glücklich zu sein, getrennt von Irrtum und Unverstand, Furcht und roher Liebe und den anderen menschlichen Übeln, um, wie man bei den Eingeweihten sagt, die künftige Zeit wahrhaft mit den Göttern zuzubringen? (Platon, Phaidon 80e–81a; Übersetzung: Barbara Zehnpfennig) Reproduktion, Transfer und Reflexion • Stelle ausgehend vom lateinischen Text Sokrates’ Einstellung zum Tod dar (R) . • Vergleiche die Stelle aus Platons Dialog mit dem lateinischen Text (T) . • Setze dich kritisch mit der in beiden Texten vorhandenen Einstellung zum Tod und Leben nach dem Tod auseinander und stelle deine eigene Sicht der Dinge dar (X) . a Orpheus, -i m .: Orpheus ( mythischer Sänger ) b Musaeus, -i m .: Musaios ( mythischer Sänger ) Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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