Ex libris Latein-Textband

96 Formen der Lebensbewältigung | Sokrates und die Philosophie Sokrates und die Sophisten Anfang des 5. Jh. v. Chr. wurde Athen zu einemwichtigen Zentrum für Wissenschaft und Kultur. Die traditionellen Werte und Bindungen wurden hinterfragt, und es ent- stand eine Art von Aufklärungsbewegung, die auch von den Vorsokratikern mitgetragen wurde. Durch die de- mokratische Ordnung hatten viele Bürger den Wunsch nach Rhetorikunterricht, um ihre Anliegen und Meinun- gen vertreten zu können. Dieser Unterricht wurde von den Sophisten erteilt. Das Wort „sophistés“ bedeutete ursprünglich einfach nur „Fachmann“; später wurde es aufgrund negativer Erfahrungen auch als „Wortver- dreher“ verstanden. Ein Hauptvorwurf war, dass Sophis- ten das schlechtere Argument zum stärkeren machten und dass sie im Zuge der Aufklärung gegen die Götter frevelten. Während dieser kulturellen Hochblüte Athens trat ein Mann hervor, der ebenso wie die Sophisten den Men- schen ins Zentrum seiner Überlegungen rückte, nämlich Sokrates (um 470–399 v. Chr.). Diesen Unterschied zwi- schen den Naturphilosophen und Sokrates hatten be- reits antike Autoren wie Cicero festgestellt. Sokrates selbst hat nichts verschriftlicht, so dass man zur Rekon- struktion seines Lebens auf Zeugnisse über ihn ange- wiesen ist. Er kommt in den Werken des Komödien- autors Aristophanes, des Schriftstellers Xenophon und der Philosophen Platon und Aristoteles vor, doch diese zeichnen ein sehr unterschiedliches Bild. Dies ist bei Aristophanes die Darstellung des Sokrates als eines amoralischen, in anderen Sphären schwebenden So- phisten (was aber durch das Genre der Komödie be- dingt ist), während ihn Xenophon als frommen atheni- schen Bürger charakterisiert. Am stärksten verbreitet ist wohl das Bild aus den platonischen Dialogen: ein durch gezielte Fragen Scheinwissen widerlegender Sokrates, dessen Dialoge mit verschiedenen athenischen Bürgern oft in Aporie (Ausweglosigkeit: Auf die gestellte Frage gibt es keine Antwort, aber die von den Diskussionspart- nern gegebenen Antworten wurden widerlegt) enden. Besonders wichtig ist ihm das Erarbeiten von Definitio- nen, die er durch die ihm eigentümlichen Fragestellun- gen nach abstrakten Begriffen (z. B. „Was ist Tugend?“) erzielt. 399 v. Chr. fand gegen Sokrates ein Prozess wegen Asebie (Gottlosigkeit) statt. Einem solchen Prozess hat- ten sich bereits der Sophist Protagoras und der Vorsok- ratiker Anaxagoras unterziehen müssen, beide waren infolgedessen aus Athen verbannt worden. In der Ankla- geschrift wurde Sokrates vorgeworfen, die Natur zu un- tersuchen, das schwächere Argument zum stärkeren zu machen und die Jugend zu verderben. Mit diesen Anschuldigungen wurde er eindeutig in die Nähe von Vorsokratikern und Sophisten gerückt. Die Asebie- Prozesse wurden zu dieser Zeit in Athen als billige Mög- lichkeit wahrgenommen, missliebige Personen aus der Stadt zu vertreiben, da in Abwesenheit nicht verhandelt wurde. Sokrates war aber gewillt, sich diesem Prozess zu unterziehen. Zeugnisse für seine Rede vor dem athe- nischen Gericht gibt es von seinen Schülern Platon und Xenophon, die beide eine „Apologie“ (Verteidigungsre- de) des Sokrates verfasst haben. Hierbei handelt es sich aber um keine wortgetreue Mitschrift der Gerichtsrede, sondern um eine literarische Auseinandersetzung mit dem Sokrates-Prozess. Sokrates wurde von einer knap- pen Mehrheit der Richter schuldig gesprochen. In einer zweiten Abstimmung sollte das Strafausmaß festge- setzt werden. Sokrates ergriff das Wort, ersuchte seine Richter allerdings nicht um Milde und Nachsicht, son- dern verlangte als Anerkennung seiner Verdienste für sich ein Staatsbankett zu seinen Ehren. Aus Empörung darüber verhängten die Athener daraufhin die Todes- strafe über ihn. Da die meisten Todesstrafen nicht ausgeführt wur- den, die Verurteilten vielmehr Flucht und Exil vorzogen, ist Sokrates’ Wille zum Vollzug der Strafe etwas durch- aus Einzigartiges. Nach dem Besuch seiner Freunde und Schüler reichte man ihm den Schierlingsbecher. Diesen trank er und starb. Sowohl die Entscheidung des Gerich- tes als auch die Vollstreckung des Urteils sorgten für viele Diskussionen in Athen in den darauffolgenden Jahren. Dies bewirkte ein Interesse an der Person und dem Prozess des Sokrates, das bis zum heutigen Tage andauert. Geschäftslokal einer „Philosophischen Praxis“ in Wien, 2011 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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