Ex libris Latein-Textband

9 Fabel | Heiteres und Hintergründiges Fuchs und Rabe Auch die folgende Fabel hat ihr Vorbild bei Äsop: Qui sé laudári gaúdet vérbis súbdolís 1 , será dat poénas túrpes paéniténtiá. Cum dé fenéstra córvus ráptum cáseúm comésse 2 véllet célsa résidens árboré vulpés hunc vídit, deínde síc coepít loquí: „O quí tuárum, córve, pénnarúm e st nitór 3 ! Quantúm decóris córpor e ét vultú gerís! Si vóc em habéres, núlla priór 4 alés 5 forét 6 .“ At ílle stúltus, d úm vult vóc em osténderé, emísit óre cáseum, quém celéritér dolósa vúlpes ávidis rápuit déntibús. Tum dém um ingémuit 7 córvi déceptús stupór 8 . Phaedrus, Fabulae 1,13 2 4 6 8 10 12 1 subdolus, -a, -um: hinterlistig 2 comesse = comedere 3: verzehren 3 nitor, -oris m .: Glanz 4 prior, -ius: überlegen 5 ales, alitis f. : Vogel 6 foret = esset 7 ingemiscere 3, -mui: beseufzen 8 stupor, -oris m. : Dummheit Der geschmeichelte Sänger (Jean de La Fontaine, 1621–1695) Herr Rabe auf dem Baume hockt, im Schnabel einen Käs. Herr Fuchs, vom Dufte angelockt, ruft seinem Witz gemäß: „Ah, Herr Baron von Rabe, wie hübsch ihr seid, wie stolz Ihr seid! Entspricht auch des Gesanges Gabe dem schönen schwarzen Federkleid, seid Ihr der Phönix-Vogel unter allen!“ Der Rabe hört’s mit höchstem Wohlgefallen, lässt gleich auch seine Stimme schallen, und aus dem Rabenschnabel rollt der Fraß dem Fuchs ins Maul, der unten saß. Der lachte: „Dank für die Bescherung! Von mir nehmt dafür die Belehrung: Ein Schmeichler lebt von dem, der auf ihn hört. Die Lehre ist gewiss den Käse wert.“ Der Rabe saß verdutzt und schwor, das kam ihm nicht noch einmal vor. (Übersetzung: Theodor Etzel) Der Rabe und der Fuchs (Gotthold Ephraim Lessing, 1729–1781) Ein Rabe trug ein Stück vergiftetes Fleisch, das der erzürnte Gärtner für die Katzen seines Nachbarn hin- geworfen hatte, in seinen Klauen fort. Und eben wollte er es auf einer alten Eiche verzehren, als sich ein Fuchs herbeischlich und ihm zurief: „Sei mir gesegnet, Vogel des Jupiter!“ – „Für wen siehst du mich an?“, fragte der Rabe. – „Für wen ich dich ansehe?“, erwiderte der Fuchs. „Bist du nicht der rüstige Adler, der täglich von der Rechten des Zeus auf diese Erde herabkommt, mich Armen zu speisen? Warum verstellst du dich? Sehe ich denn nicht in der siegreichen Klaue die verfehlte Gabe, die mir dein Gott durch dich zu schicken noch fortfährt?“ Der Rabe erstaunte und freute sich innig, für einen Adler gehalten zu werden. „Ich muss“, dachte er, „den Fuchs aus diesen Irrtume nicht bringen.“ – Großmü- tig dumm ließ er ihm also seinen Raub herabfallen und flog stolz davon. Der Fuchs fing das Fleisch lachend auf und fraß es mit boshafter Freude. Doch bald verkehrte sich die Freude in ein schmerzhaftes Gefühl; das Gift fing an zu wirken, und er verreckte. Möchtet ihr euch nie etwas anderes als Gift erloben, verdammte Schmeichler! Reproduktion, Transfer und Reflexion • Weise im lateinischen Text den typischen Fabelaufbau nach (R) . • Zeige Gemeinsamkeiten und Unterschiede zur Fabel des Dichters La Fontaine auf (T) . • Erläutere, wie Lessing die antike Fabel umgestaltet (T, X) . Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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