Ex libris Latein-Textband
8 Heiteres und Hintergründiges | Fabel Wolf und Lamm Phaedrus beginnt seine Fabelsammlung mit der folgenden äsopischen Fabel: Ad rív um eúndem lúpus et ágnus véneránt sití 1 compúlsi: súperiór 2 stabát lupús longéque inférior ágnus. Túnc fauc e 3 ímprobá latr o 4 íncitátus iúrgií 5 caus am íntulít. „Cur“, ínquit, „túrbuléntam 6 fécistí mihí aquám bibénti?“ Lánigér 7 contrá timéns: „Qui 8 póssum, quaéso, fácere, quód quererís, lupé? A té decúrrit ád meós haustús 9 liquór 10 .“ Repúlsus ílle véritátis víribús: „Ant e hós sex ménses mál e 11 “, ait, „díxistí 11 mihí.“ Respóndit ágnus: „Équidem 12 nátus nón erám.“ „Pater hércle 13 túus ib i “, ínquit,“mále 11 dixít 11 mihí.“ Atqu e íta corréptum lácerat 14 íniustá necé. Haec própter íllos scrípta e st hómines fábulá, qui fíctis 15 caúsis ínnocéntes ópprimúnt. Phaedrus, Fabulae 1,1 (Der Akzent zeigt an, welche Silben beim Lautlesen zu betonen sind, grau gedruckte Vokale werden beim Lautlesen nicht gesprochen.) M Übungsteil S. 3 2 4 6 8 10 12 14 1 sitis -is f. : Durst 2 superior, -ius: weiter oben 3 faux, faucis f .: Rachen, Fressgier 4 latro, -onis m .: Räuber 5 iurgium, -i n .: Streit 6 turbulentus, -a, -um: trüb 7 laniger, -geri m. : „Wollträger“ 8 qui: wie 9 haustus, -us m .: Schluck 10 liquor, -oris m. : Wasser 11 male dícere 3 (+ Dat .): beschimpfen 12 equidem: freilich 13 hercle: beim Herkules (= bei Gott) 14 lacerare 1: zerfleischen 15 fíngere 3, finxi, fictum: erdichten, vorgeben Der typische Fabelaufbau Die Fabeln des Phaedrus folgen einem bestimmten Schema. A) Der erzählende Teil besteht aus a) einer Exposition, in der Ort und die Akteure vorgestellt werden (Ausgangs- situation), b) einem Konflikt, der sich in Hand- lung und Gegenhandlung bzw. Rede und Gegenrede gliedert, und c) dem Ergebnis. B) Ein belehrender Teil liefert in allge- meiner Formulierung die „Moral der Geschichte“. Diese kann zu Beginn in einem Vorwort („promythion“) oder am Ende in einem Nachwort („epimy- thion“) präsentiert werden. Bei manchen Fabeln findet sich beides. Der Wolf und das Lamm (Äsop, nach 600 v. Chr.) Ein Wolf sah, wie ein Lamm an einem Bache trank, und wollte es unter einem schönklingenden Vorwand auffressen. Deshalb stellte er sich weiter oben hin und beschuldigte das Lamm, es trübe das Wasser und lasse ihn nicht trinken. Als das Lamm sagte, dass es nur mit der Spitze des Mundes trinke und dass es auch sonst ihm unmöglich sei, das Wasser oben aufzuwirbeln, wo es doch unten stehe, da sprach der Wolf, nachdem er mit diesem Vorwurf danebengetroffen hatte: „Aber vor einem Jahr hast du meinen Vater geschmäht.“ Als das Lamm aber sagte, dass es damals noch nicht auf der Welt gewesen sei, da sagte der Wolf zu ihm: „Wenn du also um Entschuldigungen nicht verlegen bist, werde ich dich dann nicht fressen?“ Die Erzählung lehrt: Bei denen, die den Vorsatz haben, Unrecht zu tun, richtet auch eine Verteidigung, die das Recht auf ihrer Seite hat, nichts aus. (Übersetzung: Günter Lachawitz) Der Wolf und das Lamm (Helmut Arntzen, 1931–2014) Der Wolf kam zum Bach. Da entsprang das Lamm. Bleib nur, du störst mich nicht, rief der Wolf. Danke, rief das Lamm zurück, ich habe im Äsop gelesen. Reproduktion, Transfer und Reflexion • Gliedere die Phaedrusfabel und verwende dazu die den Fabelaufbau betreffenden Angaben (R, T) . • Zeige Gemeinsamkeiten und Änderungen zwischen den Fabeln von Phaedrus und Äsop auf (T) . • Erkläre, worin Witz und Wirkung der Fabel von Helmut Arntzen bestehen (X) . Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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