Ex libris Latein-Textband

7 Fabel Das lateinische Wort „fabula“ bedeutet eigentlich Ge- spräch oder Erzählung (fari 1, fatus sum: sprechen). In weiterer Folge kann damit alles Erfundene und Erdich- tete gemeint sein (Sage, Mythos, Drama). Nicht zuletzt bezeichnet das Wort auch eine Fabel im eigentlichen Sinn, also eine kurze Erzählung, aus der man eine Lehre ziehen soll. Handlungsträger sind darin oft Tiere, die aufgrund ihrer typischen Verhaltensweisen feststehen- de Charaktere verkörpern (z. B. der schlaue Fuchs). Diese Erzählform ermöglicht es ferner, versteckt Kritik an so- zialen Missständen zu äußern. Ihre Verfasser gehören deshalb nicht selten niederen gesellschaftlichen Schich- ten an. Fabeln finden sich bereits ab dem 3. Jahrtausend v. Chr. in Mesopotamien. Auch bei den frühen Griechen kommen sie vereinzelt vor. Der Dichter Hesiod (7. Jh. v. Chr.) verdeutlicht etwa die Unterdrückung der Bauern durch den Adel durch eine Erzählung, in der ein Habicht eine Nachtigall packt (Werke und Tage 202–212). Im 6. Jh. v. Chr. soll die legendenhafte Gestalt des phrygi- schen Sklaven Äsop gelebt haben. Unter seinem Namen entstanden in der Folge griechische Fabelsammlungen in Prosa. Von diesen „Äsopischen Fabeln“ hat sich die „Collectio Augustana“ (2. Jh. n. Chr.) erhalten. Sie enthält an die 400 Erzählungen. Auch die römische Literatur kennt Fabeln, doch zu- nächst auch nur als eingeschobene Erzählungen. So erklärt beispielsweise der Dichter Horaz seine bevor- zugte Lebensweise durch die Geschichte von der Stadt- und der Landmaus (Sermones 2,6,80–117). Als eigene literarische Gattung präsentiert sie dage- gen erst Phaedrus (um 15 v. Chr. – um 55 n. Chr.). Er war ein makedonischer Sklave, der in Rom im Hause des Kaisers Augustus seinen Dienst versah. Schließlich wur- de er freigelassen. Unter Augustus’ Nachfolger Kaiser Tiberius scheint Phaedrus mit seinen Dichtungen beim mächtigen Prätorianerpräfekten Seianus Unwillen er- regt zu haben. Phaedrus’ Gedichte sind kurz und präg- nant. 94 Fabeln in fünf Büchern sind noch erhalten. Wei- tere 31 Gedichte, die ursprünglich auch Teil dieses Werkes waren, finden sich zusätzlich in einer Anthologie aus der frühen Neuzeit („Appendix Perottina“). Orientie- ren sich Phaedrus’ frühe Gedichte noch stark an den griechischen Vorbildern, so nimmt seine Selbstständig- keit von Buch zu Buch immer mehr zu. In der Spätantike folgten weitere lateinische Fabel- sammlungen und auch im Mittelalter blieb diese Gat- tung beliebt. Gerne wurden Fabeln für Predigten ver- wendet. Martin Luther übertrug im 16. Jh. die antiken Geschichten ins Deutsche. Über 100 Jahre später ver- öffentliche Jean de La Fontaine seine Fabeln auf Fran- zösisch. Im 18. Jh. schuf Gotthold Eph- raim Lessing seine Fabelversionen. Von den vielen späteren Autoren seien aus dem 20. Jh. noch Bertolt Brecht und Helmut Arntzen an- geführt. Der jambische Senar Während die Äsopischen Fabeln in griechischer Prosa verfasst sind, gebraucht Phaedrus das Versmaß des jambischen Senars. Ein Jambus besteht an sich aus zwei Silben. Im Deutschen wird dabei stets die zweite betont. Da in der antiken Metrik allerdings Rhythmen durch die Abfolge kurzer ( ) und langer Silben ( ) entstehen, umfasst ein lateinischer Jambus eine kurze und eine lange Silbe ( ). Der Akzent spielt dabei anders als in den modernen Sprachen keine Rolle. Trotzdem betonen wir beim Sprechen die zweite, lange Silbe und erhalten so einen Vers mit sechs Hebungen: Allerdings ist der jambischer Senar ein sehr freies Metrum, das sich der Umgangssprache annähert. Oft kann die erste kurze Silbe deshalb durch eine lange ersetzt werden, jede lange aber wieder durch zwei kurze. Nur die vorletzte Silbe eines Verses ist immer kurz. Diego Velázquez, Aesopus, 1639–1641, Prado, Madrid Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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