Ex libris Latein-Textband
58 Der Mensch in seinem Alltag | Essen und Trinken Tischmanieren Im 3. Buch seiner „Ars amatoria“ wendet sich der Dichter Ovid (vgl. S. 81) mit seinen Ratschlägen an die Frauen. Hier gibt er ihnen z. B. Tipps, wie sie sich bei einem Gelage verhalten sollen: Sera 1 veni positāque decens 2 incede lucernā, grata morā venies, maxima lena 3 mora est. Etsi turpis eris, formosa videbere 4 potis, et latebras vitiis nox dabit ipsa tuis. Carpe cibos digitis (est 5 quiddam 5 gestus 6 edendi), ora nec immundā tota perungue 7 manu. Neve domi praesume dapes, sed desine citra 8 quam 8 capis 8 : es 9 paulo 10 , quam potes esse 9 , minus. Priamides a Helenen b avide si spectet edentem 9 , oderit et dicat: „Stulta rapina 11 mea est.“ Aptius 12 est deceatque 13 magis potare puellas: cum 14 Veneris puero non male, Bacche, facis 14 . Hoc 15 quoque, qua 15 patiens 16 caput est animusque pedesque constant 17 , nec, quae sunt singula, bina 18 vide. Turpe iacens mulier multo madefacta 19 Lyaeo c . Ovid, Ars amatoria 3,751–765 (Versmaß: elegisches Distichon; vgl. S.191) 1 serus, -a, -um: spät 2 decens, -ntis: reizend 3 lena, -ae f .: Kupplerin 4 vidébere = videberis 5 esse quiddam: wichtig sein 6 gestus, -us m .: Haltung 7 perúnguere 3 : beschmutzen 8 citra quam capis: bevor du satt bist 9 esse, edo: essen; es: Imperativ 10 paulo (+ Komp .): um ein wenig 11 rapína, -ae f .: Raubzug 12 aptus, -a, -um: passend 13 decet 2 (+ AcI ): es schickt sich 14 fácere 3 M cum (+ Abl .): auf der Seite stehen (von) 15 hoc quoque, qua: freilich nur, soweit 16 patiens esse: aushalten 17 constare 1 : nicht schwanken 18 bini, -ae, -a: doppelt 19 madefactus, -a, -um: hier : völlig betrunken b Helene, -es f . ( Akk .: Helenen): Helena c Lyaeus, -i m .: Lyaios (= Bacchus = Wein; Metononymie, vgl. S.190) 2 4 6 8 10 12 14 An anderer Stelle gibt Ovid Männern Tipps für die Teilnahme an einem Gelage: (565) Wenn also die Gaben des Bacchus für dich aufgetischt sind und eine Frau dein Speisesofa teilt, dann bete zum Vater der Nacht und seinen nächtlichen Weihen, dass sie dem Wein verbieten, deinem Kopf zu schaden. Hier darfst du vieles in geheimer Zeichensprache sagen, (570) von dem sie spüren soll, dass es ihr gilt, darfst leichte Schmeicheleien mit klarem Wein niederschreiben, damit sie auf dem Tisch lesen kann, dass sie die Dame deines Herzens ist, darfst auch Auge in Auge schauend deine Liebesglut erraten lassen. Oft hat eine stumme Miene Stimme und Wort. (...) Wir werden dir ein festes Maß im Trinken setzen: (590) Verstand und Füße sollen dir noch dienstbar sein. Hüte dich besonders vor Scheltreden, zu denen der Wein aufsta- chelt, und vor allzu leicht entstehenden handgreiflichen Auseinandersetzungen. Eurytion kam um, weil er töricht den Wein trank, den man ihm vorsetzte. Besser passt zu Tafel und Wein sanfter Scherz. (595) Hast du Stimme, so singe; sind deine Arme gelenkig, so tanze und versuche durch jede Gabe zu gefallen, durch die du gefallen kannst. Zwar schadet echte Trunkenheit, doch erheuchelte wird dir nützen. (Ovid, Ars amatoria 1,565–574; 589–597; Übersetzung: Michael von Albrecht) Reproduktion, Transfer und Reflexion • Analysiere die ersten vier Verse des Textes metrisch (T) . • Liste die Ratschläge auf, die Ovid im Text Frauen beim Gastmahl gibt (R) . • Vergleiche den lateinischen Text mit oben angeführter Übersetzung aus dem 1. Buch der „Ars amatoria“ und finde Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen den an Frauen bzw. Männer gerichteten Ratschlägen (T) . • Reflektiere die beiden Texte vor dem Hintergrund der modernen Lebenswelt. Stelle deine eigene Meinung zu Benimmregeln und Tischmanieren dar und beziehe Stellung, ob manche von Ovids Ratschlägen als zeitlich überholt gelten können (X) . a Priamides, -ae m .: der Priamus-Sohn (Paris) Nur zu Prüfzwecken – Eigentu des Verlags öbv
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