Ex libris Latein-Textband

46 Politik und Rhetorik | Tacitus und die römische Kaiserzeit Der Historiker Livius, der in der augusteischen Zeit ein monumentales Geschichtswerk über die gesamte römische Geschichte von der Gründung der Stadt bis in seine Zeit verfasste, schreibt in seiner Praefatio: Zweifellos werden den meisten Lesern die ersten Ursprünge und die den Anfängen unmittelbar folgenden Ereignisse weniger Vergnügen bereiten. Denn sie wenden sich rasch dem aktuellen Geschehen zu, bei dem allerdings die Kräfte des vormals vorherrschenden Volkes schon zur Neige gehen. Ich dagegen will auch diesen Lohn für meine Mühe erstreben, dass ich mich vom Anblick der Missstände, die unsere Zeit über so viele Jahre hinweg gesehen hat, abwende, zumindest solange ich mir jene altehrwürdige Zeit ganz in Erinnerung rufe. Ich bin dabei frei von jeder Sorge, die einen Schriftsteller zwar nicht von der Wahrheit abbringen, aber doch befangen machen kann. Das, was vor der Gründung oder vor der geplanten Gründung der Stadt eher als Ausschmückung in den Sagen von Dichtern überliefert wird als durch unbestechliche historische Zeugnisse, habe ich weder vor zu bestätigen noch zu widerlegen. Man macht der Vorzeit dieses Zugeständnis, dass sie die Anfänge von Städten erhabener macht, indem sie Menschliches mit Göttlichen vermischt. Und wenn es irgendeinem Volk erlaubt sein soll, seinen eigenen Ursprung zu heiligen und auf die Götter als Urheber zurückzuführen, dann hat das römische Volk einen solchen Kriegsruhm, dass, wenn es gerade Mars als seinen Vater und den seines Gründers angibt, die Völker der Welt dies genauso gelassen hinnehmen wie sie dies mit seiner Herrschaft tun. (Livius, Praefatio 4–7; Übersetzung: Franz-Joseph Grobauer) Sprache und Stil des Tacitus Sprache und Stil des Tacitus gehören der sogenannten „Silbernen Latinität“ an, die im Gegensatz zur Goldenen Latinität der Autoren der ausgehenden Republik (Cicero, Caesar) steht. Kennzeichen dieses Stils sind ein erweiterter Wortschatz und größere Freiheit im syntaktischen Bereich. Der Einfluss der Rhetorik und der Dichtersprache ist deutlich zu erkennen. In der Wortwahl wird Alltägliches vermieden und stattdessen Altertümliches und Poetisches verwendet, was der Sprache Würde und Erhabenheit verleiht („gravitas“). Wichtig ist für Tacitus auch die Prägnanz des Ausdrucks, also sein Bemühen, einen Sachverhalt möglichst knapp zu formulieren („brevitas“). Tacitus vermeidet weiters einen symmetrischen und ausgewogenen Satzaufbau und wechselt bewusst in den Konstruktionen („inconcinni- tas“). Oft folgt nach einem syntaktisch bereits abgeschlossenen Satz noch ein sogenannter „Satznachtrag“, in dem der Aussage des Satzes noch eine entscheidende Wendung gegeben wird („Überraschungsstil“). Die am häufigsten auftretenden Besonderheiten sind folgende: • Verwendung von Kurzformen in der 3. P. Pl. Perf.: -ere statt -erunt • Ellipse des Hilfszeitworts esse, oft auch im AcI (vgl. „brevitas“) • Dativ des Gerunds statt ad + Gerund im Akkusativ • Ablativus absolutus ohne Nomen bzw. mit einem Adjektiv anstelle eines Partizips • Nominal gebrauchte Adjektiva im Neutrum statt Adjektiv + Nomen • Historischer Infinitiv anstatt eines Prädikats im Perfekt • Dativus auctoris statt a (+ Abl.) beim Passiv • Passiv statt Aktiv • Bewusster Konstruktionswechsel statt paralleler Formulierungen (vgl. „inconcinnitas“). Im folgenden Beispiel aus der Annalen-Praefatio sind die Teile, die einander inhaltlich entsprechen, aber unterschiedlich konstruiert sind, farblich gekennzeichnet: „Tiberii Gaique (…) res florentibus ipsis ob metum falsae, postquam occiderant , recentibus odiis compositae sunt:“ Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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