Ex libris Latein-Textband

44 Tacitus und die römische Kaiserzeit L6 Über das Leben des Publius Cornelius Tacitus ist nicht sehr viel bekannt. Er stammte vermutlich aus der Gal- lia Narbonensis und wurde um das Jahr 55 n. Chr. geboren. Er genoss die übliche schulische und rhetorische Ausbildung und gelangte als Redner zu hohem Ansehen. Seine politische Karriere begann unter den flavischen Kaisern. Im Jahr 77 n. Chr. heiratete er die Tochter des angesehenen Generals und Verwaltungsbeamten Agricola, der vor allem durch seine militärischen Erfolge in Britannien in die Geschichte einging. Tacitus’ politische Karri- ere gipfelte einerseits im Konsulat, das er im Jahr 97 bekleidete, anderseits in seiner Ernennung zum Statthalter der Provinz Asia (westliches Kleinasien), ein Amt, das als besonders ehrenvoll galt. Es ist sicher, dass Tacitus bis in die Regierungszeit des Kaisers Hadrian (117–138) lebte, sein genaues Todesjahr ist jedoch unbekannt. Die schriftstellerische Tätigkeit des Tacitus fällt größtenteils in die Zeit des Kaisers Trajan (98–117). Nach der von der Nobilität als zu autoritär empfundenen Zeit des Kaisers Domitian, der sich als „dominus et deus“ anreden ließ, schien mit der Regierungszeit des Kaisers Trajan und der folgenden Adoptivkaiser ein neues Goldenes Zeitalter anzubrechen. Folgende Werke sind zu nennen: • „De vita Iulii Agricolae“ („Agricola“) In der Lebensgeschichte seines Schwiegervaters liegt der Schwerpunkt auf dessen Statthalterschaft in Britannien und auf der Darstellung dieses Landes. Gleichzeitig übt Tacitus auch Kritik an Kaiser Domitian, durch dessen Missgunst Agricola die ihm zustehenden Ehrungen versagt blieben. • „De origine et situ Germanorum“ („Germania“) Nach den Germanenkriegen des Domitian war die Öffentlichkeit in Rom an genaueren Informationen über dieses Volk interessiert. Tacitus beschreibt die Vielfalt, die Stärke und die Unberechenbarkeit der Germanen und will möglicherweise so seinen Landsleuten deutlich machen, dass die Germanen die gefährlichsten Gegner des römischen Volkes sind. • „Dialogus de oratoribus“ In diesem Werk befasst sich Tacitus mit der Frage nach dem Verfall der Beredsamkeit in der Kaiserzeit. Er lässt die Redner darüber diskutieren, ob dieser Verfall auf ein Versagen der Schulbildung oder die veränderte politische Situation zurückzuführen ist. Am Ende steht die Erklärung, die zu Tacitus passt: Das Niveau der Beredsamkeit hängt von der Möglichkeit zur freien politischen Auseinandersetzung ab. • „Historiae“ Unter dem Begriff „Historiae“ versteht man die Darstellung der vom Verfasser selbst erlebten Zeitgeschichte. In diesem Sinn schreibt Tacitus in diesem Werk über die Zeit vom Jahr 69 (das „Vierkaiserjahr“) bis zum Jahr 96 (die Ermordung des Kaisers Domitian). Erhalten ist allerdings nur der Anfang bis zum Jüdischen Krieg des Jahres 70, der Rest ist verloren gegangen. • „Ab excessu Divi Augusti“ („Annales“) In diesem Werk schreibt Tacitus über die Geschichte der julisch-claudischen Dynastie vom Tod des Augustus bis zum Ende Neros. Auch dieses Werk ist nicht vollständig überliefert. Erhalten ist der Großteil der Zeit des Tiberius, ein Teil der Zeit des Claudius und der Großteil der Zeit Neros. Das Ende ist verloren gegangen, es ist aber auch möglich, dass Tacitus das Werk nicht vollendet hat. Der Titel „Annales“ findet sich erst ab der Zeit des Humanismus. Er bringt zum Ausdruck, dass die Geschichte nach Jahren gegliedert und erzählt wird. Die Geschichtswerke des Tacitus sind nicht sachliche Darstellungen von historischen Fakten, vielmehr versucht Tacitus, in literarischer Form die Ursachen des histori- schen Geschehens zu ergründen. Bei seinem Gang durch die Geschichte stößt er auf Kaiser, die in seinen Augen versagt haben, weil sie den Verlockungen der Macht erlagen und die Freiheit der Mitmenschen in untragbarer Weise einschränkten. Die Mehrheit der Bürger und auch der Senatoren habe sich unterwürfig unter das Joch gebeugt und damit die Tyrannei noch gefördert. Der Historiker Tacitus will vielleicht diese ausweglose Situation ins Bewusstsein rufen und wenigstens die Suche nach einer Lösung anregen, wie sie vielleicht die Idee des Adoptivkaisertums war. Tacitus-Statue von Karl Sterrer vor dem Wiener Parlament, 1900 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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